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Tag 377: Sommerfest

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Wie angekündigt haben wir gestern - gut ein Jahr nach dem Todestag - bei uns gefeiert. Wir haben mit Teilen der Familie und Freunden das Weiterleben gefeiert. Dank des schönen Wetters konnten wir in unserem - derzeit nicht ganz optimal gepflegten - Garten feiern. Es hat mich gefreut, dass Menschen aus völlig unterschiedlichen Umfeldern zusammengekommen sind, zeigt sich daran doch, welche Lebensphasen Veronika und ich gemeinsam durchlebt haben und mit wie vielen unterschiedlichen Menschen wir dabei zu tun haben durften. Es waren auch Gäste da, die erst nach Veronikas Tod in unser Leben gekommen sind.  Zudem rührt es mich, wenn Freunde extra mehrere hundert Kilometer anreisen, um Sonja und mich zu sehen, sich mit uns an Veronika zu erinnern, aber auch den Blick auf die schönen Seiten des (Weiter-)Lebens zu richten. Besonderen Dank an Anja aus München und meine Mutter, die bei den Vorbereitungen großartiges geleistet haben: Ich konnte mich um das Aufbauen der Tische und Bereitstellen der

Tag 370: Die Macht des Schicksals

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Die Überschrift dieses Beitrags ist auch der Name einer Oper von Giuseppe Verdi. Der Schicksalsbegriff ist in so ziemlich allen Kulturen bekannt und steht für eine Abfolge von Ereignissen, die sich der Kontrolle der Menschen entzieht. Gemeinhin kommt sie von einer höheren Macht. Hier kommen gerne eine oder mehrere Gottheiten ins Spiel, je nach religiöser Weltanschauung. Das Ganze, ob erfreulich oder unerfreulich, wird den Menschen eben geschickt. Das schließt negative und positive Ereignisse gleichsam mit ein.  Besonders unerfreuliche Ereignisse und deren Folgen werden gerne auch als Schicksalsschlag bezeichnet. So wie ein Schlag ins wehrlose Gesicht. Eine Krebsdiagnose ist natürlich ein klassisches Beispiel für so einen Schicksalsschlag. Eine erneute Krebsdiagnose bei einem Rückfall ist wie ein Schlag in die Kniekehlen, wenn man gerade wieder aufgestanden ist. Auf solche Schläge würde man sehr gerne verzichten. Es waren nur unglückliche Ereignisse, die so verkettet waren, dass ich mit

Tag 366: Annus Luctus

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Liebes Trauerjahr, während ich heute - an Veronikas Todestag - an dich schreibe, sitze ich an der Ostsee. Es regnet, die Luft weint Tränen ins graue Meer, das sich irgendwo in der Ferne unmerklich mit dem grauen Himmel vereint. Es ist fast windstill, der sanfte Hauch sagt aber: Es gibt eine Zeit nach dem Regen. Vor einem Jahr war ich an der Nordsee und musste überstürzt abreisen, weil es mit Veronika zu Ende ging. Heute darf ich bleiben. Du merkwürdiges, ungewohntes und langes Trauerjahr, jetzt bist du zu Ende. Ich habe dich nicht gewollt, Sonja sicher auch nicht. Aber Sonja und ich sind durch dich hindurchgegangen.  Obwohl ich dich nicht zu mir gebeten habe, möchte ich dir danken. Du hast mich etwas gelehrt, was viele nicht in meinem Alter lernen dürfen: das Weiterleben. Sich Widerständen zur Wehr zu setzen, volle Verwantwortung für Kind, Hund und Haus zu übernehmen und sich dabei zuzugestehen, nicht perfekt sein zu müssen. Wie ich finde, alles sehr wichtige Themen.  Es war keine leic

Tag 364: Westerland

Die Ärzte hatten lange an Veronikas Schmerzkonzept gearbeitet. Es beinhaltete während ihres Aufenthalts auf der Palliativstation auch die Gabe starker opioidhaltiger Medikamente. Diese haben starke Nebenwirkungen und führen zu Somnolenz. Sie war daher in den letzten Tagen kaum noch ansprechbar. Heute vor einem Jahr war ihr letzter vollständiger Tag auf diesem Planeten. Sonja und ich machten von Husum aus einen Tagesausflug nach Westerland auf Sylt, bei dem wir diverse Abenteuer mit der Deutschen Bahn erlebten. Ich habe Veronika am Spätnachmittag dieses Video gesendet, das unsere Hündin Isa am Hundestrand von Rantum zeigt. Sie fragte daraufhin per Signal: "Wauwi (so riefen wir Isa manchmal) und Sonja geht's gut, oder"? Ich antwortete ihr: "Wie war's mit Lena?" (Unsere Freundin Lena war die letzte, die bei ihr war). Mit diesen Sätzen verstummte unser Dialog. Ich wusste nicht, dass es das letzte war, was ich von ihr hören sollte. 

Tag 361: Wieder an die Ostsee

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Heute vor einem Jahr war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah. Sonja und ich besuchten Veronika zusammen auf der Palliativstation. Tags darauf fuhren wir nach Husum an die Nordsee. Ich hatte damals eine leise Ahnung, als ich mich verabschiedete, hatte aber die Worte der Ärzte im Ohr, die von einigen Wochen sprachen. Während ich das schreibe sitze ich - wieder mal - mit Sonja im Zug ans Meer, draußen fliegt gerade Northeim vorbei. Unser Ziel heißt Eckernförde, an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Wir hatten - im gleichen Hotel - einen Aufenthalt vom 12. Juli bis 18. Juli 2023 geplant. Gebucht hatten wir das schon im Herbst 2022, damals schien die Krankheit gerade gut unter Kontrolle. Am 30.6.2023 mussten wir diesen Aufenthalt schweren Herzens stornieren. Es sind Ereignisse irgendwo tief in der Vergangenheit, in meinem bzw. unserem "Leben 1.0".  Sonja wünschte sich, dass wir diese Reise nachholen, was wir seit heute tun. Wir werden bis zum 11.7 bleiben, somit verbrin

Tag 354: Ein Jahr alleinerziehend

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Vor einem Jahr hat Veronika unser Haus verlassen um nie zurückzukehren. Es war ursprünglich eine spezielle Behandlung ihrer Hautmetastasen geplant - ein seltener und nicht ganz unkomplizierter Eingriff. Die Liste der Nebenwirkungen liest sich alles andere als angenehm. Maan könnte sagen: Die Ärzte haben alles versucht, was in ihrer Macht stand, aber die Menschen sind gegen die Natur oft machtlos.   Und so kam es, dass Veronika - wohl aus einer gewissen Intuition heraus - mich am Vormittag des Folgetages anrief, sie habe auf den Eingriff verzichtet.  In gewisser Hinsicht hatte sie ihr diesseitiges Leben aufgegeben: Der Wunsch nach einer Unterbringung in einem Hospiz war immer deutlicher geworden. Mit Sicherheit wollte sie nicht, dass Sonja ihre Mutter in diesem Zustand sieht.  Und so endete an jenem 28. Juni mitten im Sommer 2023 unser Familienleben unwiederbringlich. Obwohl Veronika noch am Leben war, war ich von da an alleinerziehender Vater.

Tag 352: Anfang vom Ende

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Gerade verbringen Sonja und ich ein paar Tage in Brandenburg an der Havel, weil ich da schon immer mal hin wollte. Zudem sind seit Kurzem Sommerferien und ich wollte einfach mal raus. Es ist schön hier, und obwohl wir wegen des warmen Wetters nicht viel unternehmen, genieße ich die Auszeit von meiner 24/7-Einsatzbereitschaft, zumindest ruht die Hausmannaktivität, was schon mal eine deutliche Entlastung ist.. Heute vor vier Jahren war - streng genommen und medizinisch gesehen - der Anfang vom Ende: Veronika war zu einer Nachsorgeuntersuchung in der Uniklinik. Schon die Woche davor hatte sich eigenartigerweise sehr seltsam angefühlt. Umso unruhiger war ich an jenem Freitag: Es war gerade teilweise Schulschließung aufgrund der Covid-19-Pandemie und so war ich mit Sonja zu Hause und betreute sie beim Homeschooling. parallel dazu ging ich meiner Arbeit nach, als Freiberufler war ich ja immer im Homeoffice. So recht konnte ich mich nicht konzentrieren und ging angespannt und nervös im Wohnzi

Tag 347: Sommeranfang - Sommerferien

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Heute war der längste Tag im Jahr. Und damit ist wieder Sommer. Die Tage werden ab jetzt wieder kürzer, die Nächte, in denen es derzeit nie vollständig dunkel wird, werden bald wieder zu Nächten. Und es war der letzte Schultag, ab morgen sind bei uns in Niedersachsen Sommerferien. Sonja hat die fünfte Klasse sehr gut hinter sich gebracht, auf dem Zeugnis stehen nur Einser und Zweier. Das hätte ich unter den herrschenden Umständen von ihr weder verlangt noch erwartet. Damit habe ich das wackere Mädchen im Alleingang gut durch ein Schuljahr begleiten dürfen. Das muss jetzt noch fünfmal genauso oder ähnlich gut über die Bühne gehen, dann hat sie einen ersten Schulabschluss in der Tasche und darf entscheidende Weichen für ihr weiteres Leben stellen: Abitur oder Ausbildung? Erst Studium oder gleich Beruf?  Ich bin stolz auf sie, manchmal auch ein bisschen auf mich, dass es irgendwie gelingt, hier den Laden zu schmeißen. Sonja hat sich mit mir und zwei Freundinnen der Familie einen Shoppingb

Tag 336: Kindergeburtstag

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Am vergangenen Samstag habe ich meinen ersten Kindergeburtstag im Fast-Alleingang ausgerichtet. Sonja hatte lediglich die Aufgaben, ihre Gäste einzuladen und das Wohnzimmer zu dekorieren.  Sie war mit neun Freundinnen zuerst im Escape Room - dabei wird man eingesperrt und muss sich durch das Lösen von Aufgaben gewissermaßen befreien. Anschließend bin ich mit der Truppe per Bus zu uns gefahren, es gab eine Sahnetorte, die den Weight Watchers und Zahnärzten die Schweißperlen auf die Stirn treiben würde. Am Abend hat der fröhliche Trupp dann noch zwei Bleche Pizza verspeist. Unsere Freundin Elke hatte mit bei der Tortenproduktion sehr unter die Arme gegriffen - an dieser Stelle vielen lieben Dank. Gegen 19 Uhr war die Feier im Wesentlichen beendet. Eine Freundin blieb noch über Nacht. Gestern war das große Aufräumen angesagt.  Sonja und ihre Freundinnen hatten Spaß, das war mir am wichtigsten. Die Stimmung war schön, und das war irgendwie ansteckend. Zwei Mädchen haben sich glatt von mir

Tag 332: Sonjas Geburtstag

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Liebe Sonja, heute ist dein Geburtstag - du wirst schon elf Jahre alt. Leider kann deine Mama nicht dabei sein. Ich gratuliere dir von Herzen und finde, du entwickelst dich ganz toll: Du bist schlau, willensstark, beharrlich, genau so ungeduldig wie dein Vater und genau so akribisch wie deine Mutter. Ich sehe ganz gelassen in deine Zukunft, du wirst deinen Weg machen, auch wenn du einen ganz schweren Ranzen trägst. Heute vor elf Jahren - es war auch ein Donnerstag - wusste ich um diese Uhrzeit nicht, dass ich dich am Abend des gleichen Tages auf dem Arm haben sollte: Die Ärzte hatten bei dir entscheiden, die Geburt einzuleiten und dann einen Kaiserschnitt zu machen. Spontan warst du schon immer, bitte bleib so, auch wenn das bisweilen ganz schön anstrengend ist.  Heute vor einem Jahr hast du deinen Geburtstag auf der Erasmus-Klassenfahrt in Pinerolo (Piemont, Italien) gefeiert. Du warst begeistert und kamst ganz happy zurück. Deine Mama wäre schon zu schwach gewesen, um dir eine Feier

Tag 325: Tagebücher

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Veronika schrieb, wie sie es nannte, Tagebuch. Streng genommen war es kein klassisches Tagebuch: Sie hatte kleine Kalender-Notizbücher, in denen sie abends stichpunktartig die "Highlights" des vorangegangenen Tages notierte. Diese Aufzeichnungen hat sie mit der ihr eigenen akribischen Konsequenz bis zum 8. Juli 2023 durchgezogen. Viel mehr Erinnerungen an den Alltag gehen nicht, ich erinnere mich, wenn ich darin blättere, oft an die Ereignisse der jeweiligen Tage. Ich hätte die für solche Aufzeichnungen erforderliche Beharrlichkeit nie aufgebracht - es gibt bis kurz vor ihrem Tod keine einzige Lücke. Heute vor einem Jahr war ein normaler Dienstag, Veronika war bei der Ergotherapie, ich habe in der Zeit meine Arbeit erledigt. Am Nachmittag hat uns Pater Joos von der St.-Michaels-Kirche besucht. Uns war längst klar, wohin Veronikas Reise gehen würde. Am späteren Nachmittag waren Sonja und Veronika in der Stadt um für Sonjas bevorstehende Klassenfahrt nach Italien einzukaufen. A

Tag 318: Brief an Mittrauernde

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Liebe Leserinnen, liebe Leser, viele von euch sitzen irgendwie im gleichen Boot wie Sonja und ich: Ihr habt euren Lieblingsmenschen verloren, ob durch lange Krankheit oder durch ein unerwartetes Ereignis, egal wie: Ihr habt einen "Beziehungsstatus", den ihr niemals wolltet. Es ist auch egal, ob ihr offiziell verwitwet seid oder ob ihr ohne Trauschein ein glückliches Paar wart. Schmerzhaft ist es so oder so. Bei Sonja und mir jährt sich der Todestag bald zum ersten Mal. Vor einem Jahr, gegen Ende Mai 2023,  zeichnete es sich ab, dass der Tumor schneller sein würde als die stärksten Medikamente. Ich durfte viel lernen seitdem, über das Leben, über mich und über alles Zwischenmenschliche. Heute möchte ich euch aufschreiben, was Sonja und mich durch diese Zeit gebracht hat und mehr und mehr nach vorne blicken lässt. Ich schreibe euch das als Ratschläge, ohne dass es Schläge sein sollen. Ob und wie es euch hilft bzw. geholfen hat, müsst ihr für euch herausfinden: 1. Holt euch jede

Tag 316: Hochzeitstag

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Heute wären wir 23 Jahre verheiratet. Zu Beginn von Veronikas Erkrankung waren wir nicht mehr sicher, ob wir noch Silberhochzeit feiern würden. Wir haben dieses "Ziel" um fast drei Jahre verfehlt. Noch hätte ich die Chance, in meinem Leben eine silberne Hochzeit zu feiern, das Thema Goldhochzeit oder mehr ist für mich mit hoher biologischer Wahrscheinlichkeit erledigt. Unsere Hochzeit haben wir in kleinem Rahmen gefeiert, es war ein Montag, ich hatte am Abend noch ein Seminar an der Uni und Veronika musste vor der Hochzeitsnacht noch im Kino arbeiten. Wir liebten es unkonventionell, somit heiratete Veronika auch nicht in weiß, sondern in einem 70er Jahre Blumenkleid und farbliche dazu pasenden Schuhen mit bunten Steinchen, ich kam mit Strohhut (liebte ich damals schon) und Nadelstreifenanzug. Andere Paare in unserem Alter und aus dem Freundeskreis - und auch aus unser beider Familien - haben wesentlich mehr Aufwand betrieben.  Es versteht sich von selbst, dass der bei der Hoc

Tag 311: Kinderschmerzen

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Meiner lieben Tochter geht es in den letzten Tagen oft nicht gut. Wiederholt klagt sie über recht diffuse Schmerzen: Kopfschmerzen, Bauchkrämpfe, Ohrenschmerzen. Vieles deutet darauf hin, dass sich bei ihr erneut der Schmerz über den Verlust ihrer geliebten Mama wieder mal Bahn bricht. Seelischer Schmerz nach einem heftigen traumatischen Ereignis manifestiert sich oft in verschiedenen körperlichen Symptomen. Zudem zieht sie sich oft zurück, weint viel und zeigt starke Stimmungsschwankungen. Sie wirkt in einem Moment sehr antriebsarm und reagiert kaum auf Ansprache. Kurz darauf zeigt sie sich wieder sehr unruhig und unkonzentriert. Immer wieder sucht sie vermehrt meine Nähe.  In den ersten Monaten nach Veronikas Tod habe ich Sonja oft unerwartet ruhig und gelassen erlebt. Sie war ausgeglichen, manchmal traurig, zeitweise auch fröhlich, weinte nur selten.  Seit einigen Tagen ist sie wie ausgewechselt und ich gebe zu, dass mich diese Situation zeitweise an meine Grenzen bringt. Vor allem,

Tag 300: Brief an Sonja

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Meine liebe große Sonja, während ich das hier schreibe, spielst du mit Isa in deinem Zimmer - eigentlich solltet ihr (du jedenfalls), schon im Bett liegen. Es klingt gerade sehr fröhlich und ausgelassen durchs Haus, ich höre euch bis runter ins Wohnzimmer. Ich bin froh, gerade scheinst du dich gut zu fühlen.  Du hast heute beim Abendessen einen Durchhänger gehabt. Es war einer dieser Moment, in denen du sagst: "Ich hasse mein Leben." Heute dauerte die "Trauerpfütze" etwas länger, ein paar Tränen sind gekommen und du hast mir sehr klar gesagt: "Mir ist alles zu viel, ich bin überfordert." Bei euch Kindern kommen diese Trauerschübe in kurzen, aber umso heftigeren Dosen. Heute war es wieder einmal so weit. Ich kann deinen Worten nichts entgegensetzen. Ich fühle mich in diesen Momenten immer verdammt hilflos. Weil ich weiß, dass du trotz allem leidest. Weil mir immer wieder bewusst wird, dass du seit fast einem Jahr ohne Mutter aufwachsen musst. Weil ich ganz

Tag 293: Selbstliebe

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"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Dieser Satz aus dem Markusevangelium ( Markus 12, 31 ), wird oft küchentischpsychologisch zitiert. Und doch lohnt es sich, ihn einmal genauer zu beleuchten: Er beinhaltet auch, dass man andere nur dann wirklich lieben kann, wenn man sich selbst liebt. Wer sich selbst nicht liebt, kann nur schwer andere lieben. Die Selbstliebe ist häufig Gegenstand psychologischer Abhandlungen und Ratgeber, gerne auch unter der Abwandlung Selbstfürsorge oder dem englischen Begriff Self Care . Ich habe dies in an anderer Stelle schon einmal thematisiert. Im Zusammenhang mit dem heute exakt 293 Wochen zurückliegenden größten Umsturz in der Mitte meines Lebens und am Anfang von Sonjas Leben habe ich mich öfter mit diesem Begriff beschäftigt. Mit ausschlaggebend dafür war ein Gespräch mit einer Lehrerin von Sonja im vergangenen Herbst: Ich erläuterte damals, wie ich versuche, Sonja unter den schwierigen Umständen auf ihrem Lebensweg - unter ande

Tag 280: Unvergänglich

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Heute sind es 40 Wochen. dass Sonjas und mein erstes Leben vergangen ist. Die Zahl 40 hat in der christlichen und jüdischen Kultur eine hohe symbolische Bedeutung: Das Volk Israel zog 40 Tage durch die Wüste, die Fastenzeit dauert 40 Tage, bei der Sintflut währte der Dauerregen 40 Tage.  Der Zufall will es, dass dieser Tag auf den 15. April fällt: Heute, vor 112 Jahren ereignete sich die wohl größte und bekannteste Schiffskatastrophe: Die RMS Titanic sank innerhalb weniger Stunden nach einer Kollision mit einem Eisberg im Nordatlantik, 1514 Menschen fanden ihr Grab in den eisigen Wassern.    Es ist bekannt, dass dieses damals größte Passagierschiff als unsinkbar gegolten hatte. Umso größer war das Presseecho damals, hatte doch die Titanic nicht mal ihre Jungfernfahrt überlebt. Diese unfassbare Katastrophe und Tragödie steht gleichsam für die menschliche Hybris, sich über die Natur hinwegsetzen zu können wie auch für  das Ende des viktorianischen Zeitalters mit seiner Klassengesellschaf

Tag 274: Abgrenzungen

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Ostern ist vorbei, die Osterferien liegen hinter uns und damit das letzte große Fest im Trauerjahr. Man könnte sagen: Wir haben's ein Stück weit geschafft! Es geht stramm auf die Sommerferien zu, diese beginnen in Niedersachsen dieses Jahr bereits am 22. Juni, also verhältnismäßig früh. Veronikas erster Todestag wird somit mitten in die Sommerferien fallen.  Ich hatte gestern Abend ein Gespräch mit einer "Mitwitwe" und wir kamen zu der Einsicht, dass ein so gewaltiger Umbruch im Leben auch viele andere Veränderungen in der betroffenen Person auslöst: Durchgemachte, verarbeitet geglaubte oder latent vorhandene Lebenskrisen kommen wieder zum Vorschein. Ich vergleiche das mit einem Gewässer, in dem sich Sedimente am Boden abgelagert haben: Wenn das darüber liegende Wasser sehr stark aufgewühlt wird und in Bewegung gerät, kommen auch die Sedimente wieder in Wallung und trüben das klare Wasser. In der Psychologie spricht man von "Triggern": Erlebte Krisensituationen

Tag 266: Ostern und ein Jahr später

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Auf Facebook bekommt man "Erinnerungen" in Form früher geposteter Fotos angezeigt. Ich bekam heute vom Algorithmus dieses Bild in den Feed gespült. Heute ist Ostermontag, der erste "ohne" für Sonja und mich. Vor einem Jahr war es ein Samstag und damit ein ganz "normaler" 1. April. Die Aufnahme zeigt meine drei Damen mit ihren acht Beinen im InterCity auf der Fahrt von Göttingen nach Würzburg. Es war, ohne dass wir es zu jedem Zeitpunkt wussten, unsere letzte gemeinsame Reise: Wir fuhren zuerst zu Veronikas Tante nach Würzburg, dann zu ihrem Vater nach Brannenburg, am Schluss zu meiner Mutter nach München. Wir haben alle Verwandten besucht, was wir oft in den Osterferien getan hatten. Veronika war damals noch mobil, wenn auch schon sichtbar durch den Krebs geschwächt. Zudem bekamen wir während dieser Reise einen Anruf aus dem Göttinger Uniklinikum, dass man weitere Tumorherde gefunden hatte. Die onkologisch-medizinische Situation verschärfte sich also zuseh

Tag 257: Jubeltag

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Nach 28 Jahren habe ich gestern den Übergang in mein neues Lebensjahr erstmalig wieder ohne Veronika gefeiert. Genau wie 1996 fiel mein Geburtstag heuer auf einen Freitag. Gefeiert habe ich im engsten Familien- und Freundeskreis. Man könnte sagen, ich habe einen weiteren Schritt im ersten Trauerjahr hinter mich gebracht, den ersten eigenen Geburtstag "ohne".  Dass ich einen schönen, entspannnten und auch lustigen Abend hatte, zeigt mir, dass das Leben weitergeht und die schönen Dinge im Leben und Trauermomente sich nicht gegenseitig ausschließen. Veronika und ich haben seit der Rückfalldiagnose im Sommer 2020, aber insbesondere, seit klar war, dass der Krebs nicht mehr zu heilen wäre, viel gelernt: Uns ist es in den Jahren 2021 und 2022 gelungen, trotz des sich auftuenden Abgrunds unser Leben immer wieder aufs Neue zu bejahen, jeden Tag als kostbares Geschenk zu begreifen und ihn so zu leben, als sei es der letzte (gemeinsame). Seit dem letzten Sommer ist es mir gelungen, die

Tag 255: Allegra

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In unserer Heimat Niedersachsen sind seit Beginn dieser Woche Osterferien. Sonja, Isa und ich haben uns wieder auf Reisen begeben. Da Sonja eine gewisse Vorliebe für die Schweizer Alpen entwickelt hat, sind wir diesmal in Scuol im Unterengadin, ein weiteres Mal in der Schweiz. Durch diesen Ort fließt ebenso wie durch den Ort mit Veronikas Elternhaus (Brannenburg in Oberbayern) der Inn. Bei Brannenburg ist dieser bereits ein gemächlicher breiter Fluss auf dem Weg zur Donau. Hier, gut 200 Kilometer weiter flussaufwärts, ist er kaum mehr als ein Gebirgsbach.  Die Gegend hier wirkt an vielen Stellen wie aus einem Bilderbuch: traditionelle Bauernhäuser mit trutzigen Mauern, Außenfresken und kleinen Fenstern, akkurate gepflegte Dorfstraßen, dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein und - zu dieser Jahreszeit - schneebedeckte Gipfel. Für Zugliebhaber wie mich gehören die bekannten roten Züge der Rhätischen Bahn unbedingt zum Reiseerlebnis dazu.  Ich wollte diesen Ort schon lange einmal bes

Tag 249: Iden des März

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Wir schreiben den 15. März und damit die Iden des März. Das war im römischen Kalender die Bezeichnung für dieses Datum und heute vor 2068 Jahren, 44 vor Christi Geburt, wurde Iulius Cäsar durch mehrere Dolchstöße ermordet. Kurz zuvor hatte er sich noch zum Diktator auf Lebenszeit ernennen lassen, danach war die Römische Republik Geschichte. Der Name Caesar lebt heute weiter im Deutschen Kaiser , aber auch im russischen Zar . Wer so wie Veronika und ich noch Lateinunterricht über sich ergehen lassen durfte, kam um Caesars Aufzeichnungen über den Gallischen Krieg nicht herum. Deshalb sind die Sympathien für diesen Feldherrn und späteren Alleinherrscher meistens nicht besonders groß. Das zeigt sich auch in der etwas tölpelhaften Darstellung der Figur Caesars in den Comics und Filmen mit Asterix und Obelix. Die lateinische Datumsbezeichnung Iden ist eine gebräuchliche Metapher für anstehendes Unheil. Vor vier Jahren, am 15. März 2020 zog die Covid-19-Pandemie herauf, die Grenzen zu Deuts

Tag 246: Stille

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Es ist Vormittag, unsere Hundedame hat es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht, Sonja erfüllt ihre Schulpflicht und es ist ruhig im Haus. Draußen mag der Hochnebel nicht so recht weichen, so schwindet die nächtliche Kälte nur langsam. Auch die Vögel haben dabei keine Lust auf ihren Gesang. Zudem ist es fast windstill. Und so ist es auch im und ums Haus still. Und diese Stille ist etwas, was mir immer wieder auffällt, wenn ich an die gleiche Jahreszeit vor einem Jahr denke: Damals verschlechterte sich Veronikas Zustand langsam, aber stetig, die Ärzte am Uniklinikum waren auf dem Weg in den Panikmodus, probierten eine neue Therapie, die auch nicht so wirklich wirken wollte. Aber: Auch wenn sie schon sehr oft zu ambulanten Terminen in der Klinik war, so war doch mehr Leben im Haus. Vormittags hörte ich sie an ihrem Schreibtisch sitzen, um die Mittagszeit aus der Küche, am Nachmittag aus der Waschküche, abends übten Sonja und Veronika zusammen Gitarre. Später, wenn ich mich nach zehn in

Tag 234: Bäckereien

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Paare entwickeln im Lauf ihres Zusammenlebens Gewohnheiten, manchmal sogar Eigenheiten. Je länger, desto mehr, weil man sich ja irgendwie immer besser aufeinander einstellt, aneinander gewöhnt und an die Eigenheiten des/der anderen gewöhnt. Veronika und ich bildeten da keine Ausnahme. Manche unserer "Spielchen" und Sprüche waren für dritte wahrscheinlich irgendwo zwischen unverständlich und anstrengend. Wir selbst haben sie natürlich geliebt. Und mir gelingt es heute noch, über manche davon zu lachen, auch wenn ich das eben nun alleine machen muss. Eine andere - für dritte weniger nervige - Vorliebe habe ich beibehalten: Veronika und ich liebten Bäckerei-Cafés. In jeder Stadt existieren Bäckereiketten, die in ihren Outlets Selbstbedienungs-Cafés betreiben. In der Regel werden dort Gebäckwaren und Kaffee verkauft, manchmal ist auch Frühstück im Angebot, Selbstbedienung ist Standard.  Wir haben in den letzten Jahren viel Zeit in diesen Einrichtungen verbracht, oft trafen wir un

Tag 224: Akzeptanz

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Es tut mir oft weh, das zu Sonja sagen zu müssen: "Unsere Situation ist Sch...., aber es ändert nichts daran, wenn wir uns das immer wieder selbst sagen. Wir können es nur akzeptieren und einen Fuß vor den anderen setzen, was wir jeden Tag wieder aufs Neue tun."  Natürlich geht eine zehnjährige anders mit so einer Situation um als ein Endvierziger. Natürlich ist es - meiner Meinung nach - etwas Anderes, viel Schwerwiegenderes, die Mutter in jungen Jahren zu verlieren, als die Ehefrau in mittleren Jahren. Ich hatte von Veronika alles, was ich bekommen konnte, und Sonja sitzt als absolutes "Highlight" gerade wenige Meter von mir entfernt und erledigt verantwortungsvoll und selbständig ihre Hausaufgaben. Ich bewundere meine Tochter dafür, dass sie trotz ihrer schweren Last im Großen und Ganzen ein ausgeglichenes Kind ist und keinerlei Schul- oder sonstige Probleme verursacht. Immer wieder sagt sie mir, sie kann es nicht akzeptieren, keine Mama mehr zu haben, sie kann d

Tag 214: Geburtstagsbrief

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Liebe Veronika, heute wäre (ist?) dein Geburtstag. Der erste, den wir nach mehr als einem Vierteljahrhundert nicht zusammen feiern. Ich erinnere mich noch an den ersten gemeinsamen 9.2, das war vor 26 Jahren. Damals fiel dein (25.) Geburtstag auf einen Sonntag und ich kam nach meinem Dienst im Kino zu dir. Du hattest gerade deine Magisterarbeit abgegeben und warst bei deinen Freunden in Belgien zu Besuch. Ich hatte dir ein Set mit zwei Teetassen aus Keramik geschenkt, weil ich schon wusste, dass du leidenschaftliche Teetrinkerin bist. Durch dich habe ich gelernt, gerne Tee zu trinken. Heute haben einige Leute hier angerufen, anlässlich deines Geburtstags, vor allem aber, um sich nach Sonja und mir zu erkundigen. Weißt du noch? Die letzten beiden großen Geburtstagsparties haben wir 2019 (in der alten Wohnung) und 2020 (im neuen Haus) gefeiert. Dann kam Covid und im Jahr 2022, als der Pandemie-Spuk weitgehend vorbei war, hattest du schon nicht mehr wirklich die Energie für ein großes Fes

Tag 207: Lichtmess und ein Haarschnitt

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Heute ist Lichtmess. Und ich war beim Friseur. Hängt das irgendwie zusammen? Eigentlich nicht, den Termin bekam ich zufällig. Aber ich erlaube mir mal, einen Zusammenhang herzustellen: Mariä Lichtmess ist genau 40 Tage nach Weihnachten und bedeutete traditionell das Ende der Weihnachtszeit. So haben wir heute im Haus auch die letzte Weihnachtsdeko entfernt. Auch weltlich hatte dieses Datum eine Bedeutung: Die Dienstmägde und Knechte bekamen ihren Lohn, wurden entlassen oder weiterbeschäftigt. Die landwirtschaftliche Arbeit verlagerte sich langsam nach draußen.  Auf meinem Kopf war fast 30 Wochen Wildwuchs ein Schnitt fällig. Ich erinnere daran, dass ich mir an Veronikas Todestag eine Glatze scheren lassen hatte. Ich hatte dies getan im Andenken an Veronikas zahlreiche Chemotherapien, deren sichtbarstes Zeichen oftmals ein Haarausfall und eine daraus resultierende "Chemoglatze" ist. Wer sich durch Blogs oder Instagramaccounts von Krebspatienten klickt, entdeckt oft, dass der e

Tag 204: Falsch abgebogen

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Veronikas viel zu früher tragischer Tod ist - wenn man der Statistik glaubt - eine Verkettung unglücklicher, bitterer Umstände. Im Alter von 51 ist das Mammakarzinom die häufigste Todesursache bei Frauen, wobei das Risiko, daran zu versterben in Veronikas Alter bei etwa einem halben Prozent liegt. (Quelle: Statista ). Ja, ich wage heute mal einen laienhaften Ausflug in die Medizinstatistik, auch um zu zeigen, dass das Schicksal mit uns nicht gerade gnädig war. Wenn eine Patientin (oder ein Patient, ja, auch das gibt es) in relativ jungen Jahren die Diagnose Brustkrebs erhält, ist es erstmal ein Schock, das Vertrauen in das fehlerfreie Funktionieren des eigenen Körpers geht schlagartig verloren. Auf der anderen Seite: Man/Frau ist nicht allein: Langzeitüberlebende Patientinnen sind in den Medien, durch Bücher und Vorträge bekannt, als Vertreterin führe ich hier  Annette Rexrodt von Fircks  ins Feld, die seit 1998 mit dieser Krankheit lebt und allen Prognosen trotzt. Solche Bespiele mach

Tag 200: Veränderung

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200 Tage sind vergangen. Ich habe gerade das Gefühl, die Zeit rast. An Tag 100 waren wir drei im Ospizio Bernina. Das kommt mir vor, als sei es erst vor wenigen Tagen gewesen. Vor 200 Tagen standen Sonja und ich vor vollendeten Tatsachen, sie Halbwaise, ich Witwer. Jener 10. Juli kommt mir hingegen vor, als sei er eine Ewigkeit her.  Vielleicht liegt das unterschiedliche Zeitempfinden für diese zwei 100-Tages-Zeiträume daran, dass sich im ersten 100-Tages-Zeitraum mehr verändert hat, als im zweiten 100-Tages-Zeitraum. Es hat sich - naturgemäß - eine Menge in unserem Leben gewandelt: Vieles, was im Alltag von Veronika und mir gemeinsam "gestemmt" wurde, liegt nun auf meinen Schultern. Diese erweisen sich als stärker und tragfähiger, als ich es erwartet hätte. Meine Hausmannfähigkeiten verbessern sich langsam aber stetig: Das Haus versinkt nicht im Chaos, es gibt nicht jeden Tag Tiefkühlkost und unsere Hundedame kommt auf ihre Gassikosten. Sonja kommt mit den Anforderungen der