Tag 300: Brief an Sonja

Meine liebe große Sonja,

während ich das hier schreibe, spielst du mit Isa in deinem Zimmer - eigentlich solltet ihr (du jedenfalls), schon im Bett liegen. Es klingt gerade sehr fröhlich und ausgelassen durchs Haus, ich höre euch bis runter ins Wohnzimmer. Ich bin froh, gerade scheinst du dich gut zu fühlen. 
Du hast heute beim Abendessen einen Durchhänger gehabt. Es war einer dieser Moment, in denen du sagst: "Ich hasse mein Leben." Heute dauerte die "Trauerpfütze" etwas länger, ein paar Tränen sind gekommen und du hast mir sehr klar gesagt: "Mir ist alles zu viel, ich bin überfordert." Bei euch Kindern kommen diese Trauerschübe in kurzen, aber umso heftigeren Dosen. Heute war es wieder einmal so weit.
Ich kann deinen Worten nichts entgegensetzen. Ich fühle mich in diesen Momenten immer verdammt hilflos. Weil ich weiß, dass du trotz allem leidest. Weil mir immer wieder bewusst wird, dass du seit fast einem Jahr ohne Mutter aufwachsen musst. Weil ich ganz deutlich sehe, dass niemand diese fehlende Mutterrolle übernehmen kann. Und weil ich - schon aus biologischen Gründen - diese Leerstelle nur notdürftig füllen kann. 
Alles, was ich für den Moment tun konnte und kann, versuche ich, manchmal gefühlt im Blindflug: Ich habe uns bzw. dir Hilfe organisiert, in der Schule - wo du einen super Job machst, immerhin hast du im Februar das klassenbeste Zeugnis heimgebracht - hat die Vertrauenslehrerin ein Auge auf dich. Mir ihr und unserem Erziehungsbeistand stehe ich in engem Austausch. 
Zudem versuche ich, dass wir zusammen Zeit verbringen, einmal pro Woche gönnen wir uns ein Essen im Restaurant, wir haben bis jetzt tolle Vater-Tochter-Reisen unternommen, ich gebe mir Mühe, solche Dinge auf den Esstisch zu bringen, die du magst, und so weiter ...
Und doch: Ich kann dir Mama nicht ersetzen. Niemals. Ich kann dieses tiefe Loch nicht füllen, das da sehr wahrscheinlich in dir ist. Und dieser Gedanke, dass ich dir diese enorme Last nicht abnehmen kann, schmerzt mich bei der ganzen Sache am meisten. 
Auch ich kann Veronika nicht in klassischem Sinne ersetzen. Aber für mich gibt es die Möglichkeit, eine neue Liebe zu finden, ich könnte sogar nochmal heiraten. Ist bei jung verwitweten - ja, ich finde mich mit meinen 48 Lenzen noch jung - auch nicht unüblich. Eine neue Partnerin ist niemals Ersatz für eine verstorbene, so wie man an einem Auto ein Reserverad montiert. Dennoch, es gibt Geschichten von Verwitweten, die nochmal sehr glücklich geworden sind. 


Eine "neue Mama" liebe Sonja, sowas gibt es eben nicht. Das ist leider ein verdammt schwerer Schicksalsschlag, den du da einstecken musstest. Und ich fürchte, die Verarbeitung wird dauern, möglicherweise wird sie dich dein gesamtes Leben begleiten. Und doch möchte ich dir sagen: Du wirst ein erfülltes und glückliches Leben führen, auch wenn du es dir in deinen Trauermomenten nicht vorstellen kannst. Vielleicht wird es dir gelingen, dieses Leben sehr bewusst zu leben und die schönen Dinge bewusster und intensiver wahrzunehmen, eben weil du in sehr jungen Jahren eine so schwere Erfahrung machen musstest. 
Ich sehe dich als sehr starkes und resilientes Mädchen - und wie mir wiederholt versichert wird, bist du für dein Alter erstaunlich weit, vor allem was emotionale Intelligenz betrifft. Gerne möchte ich dir mit auf den Weg geben: Wenn eine es schafft, diese traurige und erschütternde Situation, in der du dich durch Mamas Tod befindest, ins Leben zu integrieren, dann bist du das. Lass dich auf deinem Weg in dein Leben, das auch auf seine Art schön sein wird, von nichts und niemandem beirren. Niemand hat das Recht, dich zu verunsichern oder unberechtigt zu kritisieren, du bist niemandem irgendetwas schuldig. Steh für dich ein, dann wirst du zu der starken erwachsenen Frau, die schon jetzt in dir steckt. 

Ich ziehe meinen Hut vor dir!

Dein Papa 


P.S.: Das Bild stammt aus dem Illusionenmuseum in Ljubljana (Slowenien), aus dem Herbst 2019.

Kommentare

  1. Lieber Benjamin, liebe Sonja, ich habe euch gestern im Fernsehen "kennengelernt". Erst dachte ich: "Welch schräge Menschen!", mittlerweile habe ich euch aus der Ferne alle drei ins Herz geschlossen. Ihr seid unkoventionell, aber ich habe selten so viel Liebe gespürt. Veronikas Tod hat mich erschüttert, obwohl ich euch nicht kenne. Mich hat das nicht losgelassen und so, lieber Benjamin, bin ich auf deinen Blog gestoßen. Deine Worte sind wunderschön, vor allem die an deine Tochter. Welch wundervolle Menschen ihr seid! Da ich momentan selbst sehr unglücklich bin und oft nicht schlafen kann, habe ich an für sich die ganze Nacht deine Zeilen gelesen. Dieser Eintrag gefällt mir besonders. Es ist die sprühende Liebe eines Vaters an sein Kind, welche mich zu Tränen gerührt hat. Sonja hat viel zu früh Schreckliches erlebt, aber ich kann dir versichern, dass ein Vater wie du - so kraftvoll, so liebevoll, so reif - sie ein Leben lang trotzdem tragen wird. Hinzu kommt Sonjas Intelligenz, die schon bei der ersten Folge deutlich wurde. Ich freue mich, mehr von euch zu lesen und sende euch viel Kraft.

    Anna

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