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Es werden Posts vom August, 2023 angezeigt.

Tag 52: Schwere

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Heute fühle ich mich schwer, so als hätte ich Gewichte an den Beinen und Armen. Das werte ich mal als freundlichen Hinweis meines Körpers, dass ich mich doch bitteschön schonen soll - nett gemeint, allerdings: Ich bin eigentlich den ganzen Tag in Aktion: Um 6:00 klingelt der Wecker, meistens liege ich dann schon einige Zeit wach. Nach ein paar Minuten schäle ich mich aus dem Bett und stelle fest, dass es jeden Morgen etwas weniger hell draußen ist - die Tage werden kürzer. Ich mag das ja nicht so gern, aber es passt irgendwie zu meiner Stimmung. Dann: Sonja erstmalig wecken, runter gehen, Teewasser aufsetzen, Pausendose für Sonja vorbereiten, Sonja zweitmalig wecken, Brot schneiden, Frühstückstisch decken, Sonja letztmalig und mit Nachdruck wecken. Dann frühstücken wir kurz zusammen, anschließend bringe ich Sonja zum Bus und hänge die erste Hunderunde an. Nach einer Stunde komme ich zurück ins leere Haus und beginne mein Tagwerk. Es besteht immer aus einer Mischung aus Arbeit, Hausarbe

Tag 49: Brief an Veronika und Sonjas Gedanken

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Meine liebe Veronika, vor sieben Wochen hast du losgelassen. Du hattest die Schnauze voll, du wolltest nicht mehr hilflos sein, du hattest die Verbände, Pflaster, Schmerzmittel, Tabletten und die Fremdbestimmtheit satt. Du hast alle rausgeschickt und hast dann deinen Frieden mit dem Leben im Diesseits geschlossen. Viel zu früh, mit 51 Jahren. Vor 49 Tagen ziemluch genau, 49 = 7 x 7. Ist das jetzt eine magische Zahl? Deine Tochter hatte und hat ja immer einen Hang zum Magischen und ich finde ihre Fantasie großartig, weil sie mit dir in den Dialog tritt - ich denke, es tut ihr einfach gut.  Letzten Mittwoch begleitete sie mich wieder einmal am Abend zum Einkaufen - sie wartete vor dem Laden mit unserer Hundedame, ich besorgte, was wir brauchten und mir wieder mal zu spät eingefallen war - das hätte es bei dir nicht gegeben. Danach erzählte Sonja: "Als ich an den Tag dachte, an dem ich meiner Mama in einer Wolke begegnet war, dachte ich erst daran, wie gerne ich es nochmal erleben wü

Tag 48: Unsere erste "normale" Woche

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Sonja, Isa und ich haben die erste normale Alltagswoche hinter uns gebracht. Alles hat geklappt. Dürfen wir jetzt stolz auf uns sein? Ich glaube, Veronika wäre (oder ist?) stolz auf uns.  Natürlich ist die (für uns ohnehin nur marginale) Leichtigkeit der Sommerferien vorbei, wir haben trotzdem versucht, uns den Alltag als Restfamilien etwas zu versüßen:  Am letzten Montag waren wir nach der Schule Pizza essen in der Stadt. Am Dienstag ist dann Sonja erstmalig vollkommen selbständig mit dem Bus zur Schule und zurück gefahren. Auch der Mittwoch lief reibungslos. Am Donnerstag hatte Sonja nach der Schule einen Gesprächstermin mit "ihrer" Pädagogin beim Göttinger Jugendamt. Davor hatten wir uns beim Vietnamesen verpflegt. Und am Freitagnachmittag brachte unsere Freundin Elke Sonja zum Gitarrenunterricht nach Niedernjesa und zurück.  Am Samstag waren wir zu dritt in der Stadt und haben auf dem Wochenmarkt eingekauft. Am Nachmittag waren wir dann beim Eisessen mit der Frau aus dem

Tag 44: Musik

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Veronika und ich liebten ja Musik, nicht nur zum Zuhören, irgendwie haben wir auch immer selbst Musik gemacht. Sie sang bis kurz vor ihrem Tod in einem Jazzchor, genannt "Chorophäen", außerdem lernte sie seit 2020 zusammen mit Sonja Gitarre. Schon in jungen Jahren hatte sie Klavier gespielt, zeitweise auch Geige und Oboe. Zu erwähnen bleibt, dass sie aus einer Musikerfamilie stammte: Ihre Mutter war Opernsängerin, der Vater Lehrer für Kirchenmusik. Ich habe weniger professionellen Hintergrund, spiele aber gerne Geige und Bratsche (Violine und Viola). Veronika ertrug meine verbissenen Tonleiter- und Doppelgriffübungen immer sehr geduldig. Für mich hatte und hat Musik auch immer etwas Tröstliches und Beruhigendes. Mein Musikgeschmack ist anders als Veronikas es war: Sie liebte es eher zeitgenössisch, bei mir galt und gilt: Je oller, je doller. Renaissance, Barock und Klassik gehen mir sehr nah, je nach Stimmung.  In meiner momentanen Phase begleiten mich folgende Musikstücke au

Tag 42: Meine Trauer

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Meine Trauer,  du bist meine Weggefährtin geworden. Du hast dich leise angekündigt, dass du irgendwann zu mir kommen wirst, schon in den letzten Jahren, dieses Jahr hast du dich auf den Weg zu mir gemacht, am 10.7 um 11:03 warst du da, an einem Sommertag, der für mich keiner sein sollte. Ich nehme dich an, lasse dich in mein Leben. In mein neues Leben, denn seit dem Morgen ohne Wiederkehr ist mein bisheriges Leben zu Ende, dafür gehörst du jetzt zu mir. Du bist gekommen um zu bleiben, und ich heiße dich willkommen.  Mal siehst du mich aus der Ferne an, manchmal setzt du dich zu mir, meistens wenn ich alleine bin. Dann umarmst du mich und legst deinen dunklen Schleier um mich. Manchmal ist deine Umarmung sehr stark. Dann atme ich schwer, spüre die Enge in der Brust. Ich bitte dich, drück mich nicht zu fest. Meistens aber meinst du es gut mit mir und lässt mich weinen. Du lässt mich schwach und hilfebedürftig sein für eine gewisse Zeit. Manchmal lässt du mich sogar im Traum weinen. Ich b

Tag 39: Hallo neue Schule, hallo Alltag!

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Sonja hatte heute ihren ersten Schultag an der weiterführenden Schule, der Bonifatiusschule 2. Sie war - erwartungsgemäß - nervös, weil  sie nicht wusste, was  auf sie zukommen würde. Für mich ist damit die Schonfrist vorbei: Ab kommender Woche muss ich als alleinerziehender Vater funktionieren: Jeden Tag aufstehen, dafür sorgen, dass Sonja alles dabei hat, dass Sonjas Frühstücksdose gefüllt ist, an Elternabenden teilnehmen, bei Bedarf Nachhilfe geben und wahrscheinlich noch mehr, von dem ich noch gar nicht weiß, dass es gemacht werden muss.  Veronika hat sich immer um solche Dinge gekümmert, sie hat es gerne gemacht und war eine tolle Mutter. Sonja weiß auch, dass sie mit ihrer Mama das ganz große Los gezogen hatte, was Zuwendung, Fürsorge und Geduld betrifft. Ich werde bei Sonja die entstandene Lücke nicht ansatzweise füllen (können) - ja solche Gedanken habe ich von Zeit zu Zeit. Somit komme ich zu einer steilen Lernkurve, aber das hält ja angeblich fit.  Erste Schulltage sind - so

Tag 38: Urnenbeisetzung

Was ist Sterben? Ein Schiff segelt hinaus und ich beobachte, wie es am Horizont verschwindet. Jemand an meiner Seite sagt: "Es ist verschwunden." Verschwunden wohin? Verschwunden aus meinem Blickfeld - das ist alles. Das Schiff ist nach wie vor so groß wie es war als ich es gesehen habe. Dass es immer kleiner wird und es dann völlig aus meinen Augen verschwindet ist in mir, es hat mit dem Schiff nichts zu tun. Und gerade in dem Moment, wenn jemand neben mir sagt, es ist verschwunden, gibt es Andere, die es kommen sehen, und andere Stimmen, die freudig aufschreien: "Da kommt es!" Das ist sterben. Charles Henry Brent (1862-1929) Musik: volkstümlich, aus Irland Vielen lieben Dank an unsere Freundin vom Göttinger Symphonieorchester für das Musizieren auf dem Horn. 

Tag 37: Trauerfeier

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Weißt du Vroni, ich hatte echt Bammel vor dem Tag. Das hat ja immer so was Endgültiges. Das ist ja auch der Sinn der Sache, irgendwie abzuschließen, klassisches Ritual eben. Außerdem: Würde alles klappen? Hatte ich an alles gedacht? Und so weiter und so fort. Aber lass mich erzählen: Die Nacht davor war unruhig, ich lag - wieder mal - lange wach. Zum einen, weil Sonja bei mir geschlafen hat und ich abwechselnd einen Ellenbogen oder ein Knie irgendwohin gebohrt bekam. (In Sonjas Zimmer schläft zur Zeit Esther, die noch bis übermorgen da ist.) Und natürlich war die Nacht auch unruhig, weil .... na ja, kannst du dir eh denken. Sowas hat und braucht man nicht alle Tage. Ich bin früh raus, hab mit Isa die Hunderunde gemacht, es war Gott sei Dank bewölkt, die Luft war so feucht, dass man quasi Wasser einatmete. Nach dem Frühstück haben Lena und Ingo Sonja und mich abgeholt, meine Mutter und Esther kamen später mit Katrin und Lina zur Kirche gefahren. Sonja und ich haben in der Kirche noch di

Tag 35: Brief an Gott

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Lieber Gott, gestern war Sonntag, der Tag des Herrn - quasi dein Tag. Ich weiß nicht ob es dich gibt und würde mich doch eher als rationalen Menschen bezeichnen. Immer wieder wollen Menschen wie Seneca, Thomas von Aquin oder Anselm von Canterbury bewiesen haben, dass es dich gibt. Ich habe oft an Gottesdiensten teilgenommen, habe mich auch mit anderen Religionen beschäftigt, manche Menschen rufen dich auch Jahwe oder Allah. Aber immer sind sie sich darin einig, dass du gut und barmherzig bist und wiederholen das andauernd in Gebeten, Psalmen und Büchern. Ich habe mich entschlossen dir zu schreiben, viele treten ja im Gebet eher so in einen Dialog (oder Monolog) mit dir. Auch du hast den Menschen das, was du ganz wichtig findest, zumindest diktiert, z. B. in Form von zehn Geboten, Evangelien oder auch in Form eines heiligen Buches oder einer Schriftrolle.  Deswegen möchte ich dir heute auch etwas schriftlich mitteilen, bitte dich auch schon gleich mal um Verzeihung für meine Ehrlichkeit

Tag 33: Verbunden

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Was soll ich mit dem Ehering machen? Das habe ich mich bald nach Veronikas Tod gefragt. Veronika musste ihren Ring schon einige Tage vor ihrem Tod ablegen: Durch die Lymphödeme waren die Finger so angeschwollen, dass die Gefahr einer Nekrose am rechten Ringfinger (nicht nur dort) bestand. Veronikas Ehering konnte nur noch mit einer Zange abgenommen werden, dazu musste er durchtrennt werden. Der aufgebrochene und aufgebogene Ring lag einige Tage auf Veronikas Schreibtisch.  Mir war es immer klar gewesen: Entweder wir tragen unsere Eheringe beide oder niemand. Wir hatten sie uns am 21. Mai 2001 an einem sonnigen Vormittag unter weiß-blauem Münchner Himmel gegenseitig angesteckt und uns etwas versprochen, bis dass der Tod uns scheiden würde. Das hat er nun getan, sonst hätte das wahrscheinlich niemand geschafft.  Es gibt verschiedene Möglichkeiten, was man mit Eheringen machen kann, die ihre Funktion verloren haben: Manche Witwer/n lassen die Ringe verflechten und tragen das Ergebnis als

Tag 31: Brief an mich

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Lieber Benni, deine geliebte Veronika ist heute genau einen Monat tot. Du bist jetzt schon 31 Tage Witwer und alleinerziehender Vater. Du trägst zwei schwere Lasten: die große Trauer über den Verlust deiner Frau und die große Verantwortung für deine Tochter in einer schwierigen Zeit. Du hast viel um die Ohren und musst dich in den neuen Alltag erst langsam reinfinden, du musst die Trauerfeier organisieren und du musst dir auch überlegen, wie du im Alltag die durch Veronika hinterlassene Lücke füllst. Hast du nicht vor kurzem in einem Artikel über Trauerbewältigung gelesen, dass dabei zwei Prozesse ablaufen (müssen): Abschied vom alten, vertrauten Leben und parallel dazu der Aufbau eines neuen Lebens. Und weißt du was? Ich finde, du kriegst das beides ziemlich gut hin.  Warum schreibe ich dir das? Weil du auch auf dich achten sollst! Sonja hat dir vor ein paar Tagen gesagt, sie habe Angst, dass du auch noch krank wirst vor Stress. Du hast sie dann beruhigt, aber die Angst ist doch aus S

Tag 30: Sonjas Freuden-Tränen

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Als frischgebackener alleinerziehender Vater muss ich mich irgendwie organisieren. Vor allem, wenn ich solche Dinge wie Einkaufen erledigen muss, wo unsere Vierbeinerin Isa nicht mitgehen darf. Auf der anderen Seite wollen Schnauzer eine gewisse Auslastung, sonst kommen sie zu Hause auf dumme Gedanken. Kurzum: Ich versuche oft, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, so auch gestern Abend: Ich hatte nach dem Abendessen festgestellt, dass ein paar Dinge im Vorratsschrank fehlten, tags darauf würde es aber zeitlich etwas eng. So entschloss ich mich, die abendliche Hunderunde mit einer Stippvisite im Supermarkt zu kombinieren: Sonja wurde beauftragt, mit dem Hund vor dem Markt zu warten, während ich die Einkäufe erledigte.   Als ich nach getaner Arbeit zu Sonja und Isa in die Dämmerung vor den Laden trat, fing meine Tochter an zu erzählen: "Als ich mich zu Isa hinuntergekniet habe, um sie zu streicheln, habe ich über meine Mama geredet und mich gefragt, wie sie wohl aussieht un

Tag 29: Die Frau aus dem Zug

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Gestern Nachmittag klingelte das Telefon - das tut es eigentlich dauernd. Aber diesmal war es eine freudige Überraschung: Es meldete sich jene liebe Frau, die wir auf unserer ersten Fahrt nach Husum kurz vor Veronikas Tod kennen lernen durften und die dann nach Veronikas Tod dieses rührende tröstende kleine Album für Sonja gesendet hatte.  Ich habe an dieser Stelle darüber berichtet. Endlich hatte ich Gelegenheit, ihr zu sagen, wie sehr mich ihr kleines Geschenk an Sonja gerührt hatte, endlich konnte ich ihr danken, endlich konnte ich ihr sagen, wie unglaublich gut es uns getan hatte, zu wissen, dass sie an uns gedacht hatte.  Es war ein schönes, wenn auch kurzes Telefongespräch und selbstverständlich habe ich sie zur Trauermesse eingeladen: Sie wird kommen! Es sind die ganz kleinen Dinge im Leben, die wirklich ans Herz gehen und die auch in unserer schwierigen Situation ein Lächeln und ein bisschen Freude herbeizaubern.  Außerdem möchte sie gerne mehr Kontakt zu Sonja und mir, und vi

Tag 27: Brief an Veronika

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Meine liebe Veronika,  letzte Nacht habe ich im Traum geweint. Ich habe dich festgehalten und wollte nicht, dass du gehst, im Traum kam deine Erkrankung vor, sehr diffus, aber sie war da. Als ich aufwachte, habe ich eine kurze Zeit überlegt - dann wusste ich es wieder: Du würdest nicht mehr kommen, du lebst nur noch in der Erinnerung. In meinen Gedanken rede ich oft mit dir, ich mache unsere gemeinsamen Witze, ich denke oft daran, was du in der jeweiligen Situation machen würdest.  Jedesmal, wenn ich unser Haus betrete, egal ob ich vom Hundespaziergang zurückkomme, vom Einkaufen oder aus der Stadt, denke ich, wie es wohl wäre, wenn du mir überraschend die Tür öffnen würdest und ich würde verstehen, dass ich diese ganze Krebssch.... nur geträumt habe. Wir würden uns einen Kaffee kochen und uns austauschen, was wir erlebt haben. Aber das wird nie wieder so sein. Heute ist deine Traueranzeige im Göttinger Tageblatt. Ich sehe deinen Namen, dein Leben als zwei Daten und frage mich wieder, w

Tag 23: Mehr als eine Lebenshälfte

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Veronika und ich haben uns Ende 1996 kennen gelernt. Damals war Deutschland gerade sechs Jahre wiedervereinigt. Die Europäische Union endete an mehreren Stellen an der Grenze Deutschlands. Der Kanzler hieß Kohl. Das Internet gab es schon, aber es war noch etwas für Nerds. Handys waren ein paar hundert Gramm schwer und es war schon toll, wenn man damit Kurznachrichten - genannt SMS - senden konnte. Wenn wir in der Uni-Bibliothek ein Buch suchten, gingen wir oft noch an Katalogkästen mit Karteikarten. Wir jobbten als Studenten im Kino, dort liefen analoge 35-Millimeter-Filme durch wuchtig anmutende Projektoren. Überhaupt gab es in München noch einige Stadtteilkinos, wo wir oft abends hingingen. Die Eintrittskarten kosteten am Kinotag in der Regel unter zehn Mark. Wir waren viel auf Reisen. Gerne fuhren wir mit dem Zug in Städte, die uns interessierten, oft in Italien, Spanien oder Portugal. Unser wichtigster Reisebegleiter waren die Backpacker-Reiseführer aus den Reihen "Let's G