Tag 35: Brief an Gott

Lieber Gott,

gestern war Sonntag, der Tag des Herrn - quasi dein Tag. Ich weiß nicht ob es dich gibt und würde mich doch eher als rationalen Menschen bezeichnen. Immer wieder wollen Menschen wie Seneca, Thomas von Aquin oder Anselm von Canterbury bewiesen haben, dass es dich gibt. Ich habe oft an Gottesdiensten teilgenommen, habe mich auch mit anderen Religionen beschäftigt, manche Menschen rufen dich auch Jahwe oder Allah. Aber immer sind sie sich darin einig, dass du gut und barmherzig bist und wiederholen das andauernd in Gebeten, Psalmen und Büchern.

Ich habe mich entschlossen dir zu schreiben, viele treten ja im Gebet eher so in einen Dialog (oder Monolog) mit dir. Auch du hast den Menschen das, was du ganz wichtig findest, zumindest diktiert, z. B. in Form von zehn Geboten, Evangelien oder auch in Form eines heiligen Buches oder einer Schriftrolle. 

Deswegen möchte ich dir heute auch etwas schriftlich mitteilen, bitte dich auch schon gleich mal um Verzeihung für meine Ehrlichkeit: Ich bin stocksauer, nein ich bin ziemlich wütend auf dich! Da heißt es immer "Dein Wille geschehe." So, deinen Willen hast du dann wohl bekommen: Sonja und ich mussten mit ansehen, wie aus unserer lebensfrohen, unternehmungslustigen, stets positiv gestimmten Veronika, die sich ihre tödliche Krankheit nicht anmerken ließ, binnen weniger Monate ein Schatten ihrer Selbst wurde, der sich schwer atmend und vollgepumpt mit starken Schmerzmitteln am Rollator über den Klinikflur schleppte. 

Dein Wille ist wohl auch geschehen, als wir unzählige Male die ärztlichen Befunde abwarteten, die uns verdeutlichten, wie sehr Veronikas Leben am seidenen Faden hing, und über Leben und Tod entschieden. Die Zeiten zwischen zwei Kontroll-CTs waren immer sowas wie ein Bonustrack, sofern bei dem Befund kein deutliches Fortschreiten des Tumors festgestellt wurde, so wie es eben dann ab Anfang 2023 der Fall war. Ja, den unbefristeten Vertrag für unser schönes Leben hast du uns schon 2017 definitiv gekündigt, seitdem ging es von Kontrolluntersuchung zu Kontrolluntersuchung, von Befristung zu Befristung. 

Irgendwann hat du dich dann im Frühjahr dieses Jahres entschieden, die Befristung nicht mehr zu verlängern. Dein Wille sei geschehen!

Du hast mir Veronika Ende 1996 als Engel geschickt, ich hatte mein ganz großes Glück so früh gefunden und war dir auch unendlich dankbar dafür, mit so einer klugen und schönen Frau durchs Leben gehen zu dürfen. Jetzt hast du sie mir genommen. Was sollte das? Was war dein Wille? Hatte das Ganze irgendeinen Sinn? Kannst du mir bitte eine Antwort senden, mir und Sonja auch? 

Im Vertrauen auf dich

Benni (mit Sonja)





Kommentare

  1. Danke. Diese Gedanken und Gefühle hatte ich auch. Mein Mann starb plötzlich an eine Lungenembolie. Morgens brachte ich ihn mit unklarer, aber keineswegs lebensbedrohlich erscheinender Symptomatik zum Arzt. Von dort wurde er prompt ins KH eingeliefert. Nachmittags war er tot. Ich stand da ohne Einkommen mit einem Konto knietief im Dispo, ohne Ersparnisse und ohne Risikolebensversicherung, drei Kinder waren urplötzlich ohne Vater. Ich kann mir im Nachgang einen Sinn zusammenspintisieren, um das Ganze irgendwie erträglicher für mich zu machen, aber welchen Sinn das haben soll, dass Kindern ein Elternteil genommen wird, das erschließt sich mir nicht. Auf eine Antwort, wieso das ausgerechnet ihn, mich, die Kinder getroffen hat und andere bis in hohe Jahrzehnte verschont werden, warte ich bis heute. Irgendwie hab ich mich damit abgefunden, dass da keine Antwort kommt.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes