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Es werden Posts vom September, 2023 angezeigt.

Tag 81: Liebe

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Wer jetzt etwas voll Romantisches erwartet, sei gewarnt: Ich werde mich dem Thema Liebe im Kontext einer frühen "Verwitwung" - das Wort habe ich  gerade erfunden - hier mal ganz nüchtern und pragmatisch nähern. Eingangshypothese ist für mich: Ohne das Konzept der romantischen Liebe wäre die Menschheit um jede Menge Märchen, Poesie, Literatur, Dramen, Opern und Filme ärmer. Viele dieser Kunstwerke enden interessanterweiser spätestens mit der Hochzeit des Protagonistenpaares. Wir erfahren nicht, wie es sich für Dornröschen unter den höfischen Zwängen am Schloss ihres Prinzen lebte, wir wissen nicht, ob Schneewittchen nach der Geburt des x-ten Kindes noch immer so eine makellose Schönheit war. Und heute, in der realen Welt: Das Statistische Bundesamt verlautbart, die durchschnittliche Ehedauer liege bei 15,1 Jahren. Ca. 35 Prozent der Ehen werden geschieden. Heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass das gegenseitige Versprechen "Bis dass der Tod uns scheidet" eingehalten wir

Tag 79: Reisen

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Veronika und ich liebten Reisen. Ich liebe Reisen auch immer noch und bin froh, dass Sonja in diesem Punkt mit mir einer Meinung ist. Nach Veronikas erster Krebs-Episode, also vor dem Rezidiv, haben wir uns - natürlich - eine große Reise gegönnt. Das war ziemlich genau vor fünf Jahren, im September 2018. Wir hatten uns für den Norden Portugals entschieden: Von München ging es mit dem Flugzeug nach Lissabon, von dort aus nach Évora, dann weiter nach Nazaré am Atlantik, anschließend nach Aveiro, Porto und Guimarães. Am Ende verbrachten wir noch sechs Tage am Meer, in Figueira da Foz, bevor wir von Lissabon wieder nach München flogen. Der September war ein schöner Nachsaison-Reisemonat dafür, Sonja war noch nicht schulpflichtig, so konnten wir damals noch verreisen, wann wir wollten und den großen Touristenströmen aus dem Weg gehen.  Wie auf allen unseren Reisen war es auch diesmal eine schöne Mischung aus Kultur, Natur, Entspannung und gutem Essen. Wir waren auf eigene Faust mit Bus und

Tag 76: Leben

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Wer mich etwas besser kennt, weiß, das sich Deutsch (als Fremdsprache) unterrichte. Meine "Schüler" sind medizinische Fachkräfte aus dem Ausland, hauptsächlich Ärzte. Ein wichtiges Thema im Unterricht mit fortgeschrittenen Deutschlernen sind Präfixe beim Verb. Zum Beispiel: ab -stellen, an -stellen, auf -stellen, aus -stellen. Dabei geht es darum, wie sich die Bedeutung des Verbs durch das Präfix verändert. Ich möchte das hier mal demonstrieren, und zwar anhand des Verbs leben .   ableben formeller Ausdruck für sterben. Müssen wir irgendwann alle. Beim Ableben eines Menschen bleiben ein paar sehr unglückliche Menschen zurück.  aufleben nach einer Zeit der Passivität und der Niedergeschlagenheit wieder aktiver werden, bewusst am Leben teilnehmen und Freude erleben können. Wann das passiert, ist bei allen, die einen geliebten Menschen verloren haben, anders. Und es ist sicher kein linearer Weg, der dorthin führt. An manchen Tagen geht es schon ein bisschen, an manchen noch gar

Tag 72: Heimat

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Veronika und ich sind oft umgezogen. Zusammengezogen sind wir ohnehin erst nach unserer Hochzeit, als wir im Herbst 2001 unsere Studentenbuden (sie) bzw. WG-Zimmer (ich) aufgegeben haben. Wir wohnten ein Jahr lang in zwei Zimmern im Haus meiner Mutter in München-Obermenzing. Im Herbst 2002 zogen wir nach Warschau. Wenn man so will, war das die erste komplett eigene Wohnung. Sie hatte eineinhalb Zimmer und befand sich in der 9. Etage eines typischen Ostblock-Plattenbaus. Der Blick auf die sich stets verändernde Skyline der durchaus dynamischen polnischen Hauptstadt war beeindruckend.  Im Sommer 2005 gingen wir - ein bisschen auf mein Drängen hin - zurück nach Deutschland. Göttingen, wo wir erstmal beide als Deutschdozenten arbeiten konnten, war als Durchgangsstation gedacht, als Provisorium. Nichts hält bekanntlich so lange wie ein Provisorium und so lebt die Restfamilie aus Sonja, mir und Isa nun immer noch in Göttingen. Von 2005 bis Mitte 2008 lebten wir ein einer winzigen Studiowohnu

Tag 70: Wege

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Ich führe gerne Gespräche mit Leidensgenossinnen und Leidensgenossen - wie bereits erwähnt ist es heute nicht allzu schwer, im virtuellen Raum in Kontakt zu kommen. Ich bekam dort vor einigen Tagen die Frage gestellt. "Und natürlich wünscht sich jeder Mensch, eines Tages (wieder) glücklich zu sein, aber was genau bedeutet das eigentlich?" Nun, ich möchte mir nicht anmaßen, eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu finden. Mir ist heute eine mögliche Antwort in den Sinn gekommen, und ob diese zutreffend ist, werde ich erst in Zukunft (hoffentlich) wissen.  Heute sind Traurigkeit, Schwermut und Erinnerungen an "bessere Zeiten" allgegenwärtig. Diese Emotionen kommen und gehen, wann und wie sie wollen. Und das tun sie ziemlich häufig. Den Weg auf dem Foto sind Veronika und ich sehr oft zusammen gegangen. Entweder auf Spaziergängen, später auf Hunderunden, manchmal auch, um Sonja zu ihren Sportkursen zu bringen. (Spaziergänge waren in Covid-19-Zeiten im Frühjahr 2

Tag 68: Auf Station

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Heute habe ich den Ort besucht, an dem ich Veronika das letzte Mal gesehen habe. 68 Tage danach. Die Ehrenamtler der Palliativstation der Göttinger Universitätsklinik richteten zu ihrem 15jährigen Jubiläum ein Gartenfest aus. Sonja und ich waren dort. Einige der engagierten Menschen dort konnten sich auch an Veronika erinnern. Ich hatte die Gelegenheit, dort nochmal für die großartige und liebevolle Arbeit und das Engagement zu danken.  Wie fühlte es sich an, diesen Ort wieder zu betreten? Es war ein nicht ganz leichter Schritt , den ich mir dennoch vorgenommen hatte. Im Wesentlichen hielt man sich im Patientengarten auf. Für eine Weile machte ich mich auf den Weg, ging ins Innere der Station und genau vor die Zimmertür, hinter der Veronika am 10. Juli 2023 gestorben war. Es war ein schwerer Gang dorthin, aber ich wollte nochmal an diesem Punkt stehen, den typischen Klinikflurgeruch einatmen, das Geräusch der Türöffner hören und auf diese Tür schauen, hinter der Veronika von ihrem uns

Tag 67: Brief an Veronika

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Meine liebe Veronika, so gerne hätte ich, dass du weißt, wie es bei Sonja und mir läuft. Ob du uns zusiehst? Oder es fühlst? Ich weiß es leider nicht, deswegen schreibe ich es dir im Folgenden einfach. Wir waren oft genug räumlich getrennt, zum Beispiel während unserer Auslandsaufenthalte im Studium, du in Polen, ich in Rumänien. Das war noch in der Zeit, als Telefonieren teuer war, Smartphones Zukunftsvision und Videochats etwas aus Actionfilmen, die in irgendeiner komischen Zukunft spielten. Auch damals schrieben wir uns lange Briefe. Also: Sonja macht sich ziemlich gut in der neuen Schule, es war goldrichtig, dass ihr Ende Mai genau diese Schule ausgewählt habt. Ich habe das Gefühl, es fällt ihr eher leicht, die Hausaufgaben halten sich noch im Rahmen. Sonja hat sich selbst Gespräche mit der Vertrauenslehrerin organisiert, zweimal pro Woche. Auch ich hatte schon ein Gespräch mit ihr, sie war von Sonjas offener und direkter Art ganz positiv angetan.  Unsere Tochter hat im Schwimmkurs

Tag 62: Die Weinende

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An diesem wahrscheinlich letzten sommerlichen Sonntag möchte ich mich mit Musik an euch wenden: ein traditionelles mexikanisches Lied über Liebe und Tod, mit dem Titel "La Llorona" (= Die Weinende), das ich mit euch teilen möchte. Es wurde durch die Sängerin Chavela Vargas (1919 - 2012) und den Film Frida (2003) über Lateinamerika hinaus bekannt. Lasst diese für mich einmalig schöne Musik auf euch wirken, ich habe den Text dazu übersetzt:  Falls ihr keine eingebetteten Videos abspielen könnt, könnt ihr auch hier unten klicken, es öffnet sich dann ein externes Fenster. in externem Fenster abspielen Alle nennen mich den Schwarzen, Llorona, schwarz bin ich, aber zärtlich. Alle nennen mich den Schwarzen, Llorona, schwarz bin ich, aber zärtlich. Ich bin wie der grüne Chili, Llorona, scharf, aber köstlich. Ich bin wie der grüne Chili, Llorona, scharf, aber köstlich. Ach weh mir, Llorona, Llorona, Llorona, nimm mich mit zum Fluss. Ach weh

Tag 60: Zwiesprache

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Ich kann nicht loslassen. Ich bin ein zwanghafter Macher. In den letzten 60 Tagen habe ich alles gegeben - mich unter Druck gesetzt: Du musst optimal für Sonja sorgen, du musst die Bürokratie abarbeiten, du musst dich um die Firma kümmern. Du musst Veronikas Klamotten aussortieren. Du musst dich um den Garten kümmern. Du musst Pläne für die Zukunft machen.  Hey! Stop! Du musst gerade gar nichts! Es ist in Ordnung, wenn du mal eine Woche in der Ecke sitzt und weinst.  Aber ich möchte doch, dass es mir bald wieder besser geht. Und das, was ich mache, hilft mir dabei. Ich komme auch auf andere Gedanken. Ich mochte noch nie das Steuer aus der Hand geben. Ich habe schon wieder tagelang nicht Geige geübt. Und, was ist so schlimm daran? Du bist den ganzen Tag am Herumwirbeln. Halte doch mal inne!  Warum? Es lenkt mich ab und ich möchte doch "Normalität". Ich habe das Gefühl, du läufst dem, was unvermeidlich ist, davon. Lass dich mal gehen. Du solltest bedenken, dass du dem Trauerpro

Tag 59: Ablösung

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Ich tausche mich oft aus. Mit anderen jungen Verwitweten. In Zeiten von Internet und Social Media ist das ein Leichtes und hat viel Positives: Man weiß, da draußen gibt es andere, die vor den gleichen Problemen stehen, seien es nun die Trauer an sich, die Einsamkeit, aber auch die Scherereien mit Behörden und Ämtern, die wohl dazugehören wie der Deckel zum Topf.  In den virtuellen Gruppen herrscht angenehmerweise ein offener und wertschätzender - teilweise fast schon liebevoller - Umgangston, was in der schönen neuen Onlinewelt nicht immer selbstverständlich ist. Alle wissen, man ist in seinem tragischen Schicksal geeint, den Lieblingsmenschen für immer und unwiederbringlich verloren zu haben. Das verbindet und man kommt schnell auf eine persönliche Ebene. Die entscheidende Frage lautet: Wie ist "es" bei dir passiert? In der Regel schreibt man das schon in die Selbstvorstellung. Ich habe mir selbst und auch in den virtuellen Räumen oft die Frage gestellt, welchen Unterschied

Tag 55: Kirmes

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Ich möchte etwas über den Alltag eines Witwers, bzw. eines verwitweten Vaters und seiner verwaisten Tochter schreiben. Im Grunde genommen tue ich das schon die ganze Zeit. Ich schreibe mal über das vergangene Wochenende: Am Samstag war Sonja auf einem Ausflug mit der Kirchengemeinde, ich habe eingekauft, mit netten Leuten gesprochen, Freunde besucht. Am Abend waren wir auf einer Kirmes (aka Jahrmarkt oder Volksfest) im Göttinger Stadtteil Grone, auch dort waren wir mit einer befreundeten Familie. Gehört ein Trauernder auf eine Kirmes? Warum denn nicht, schließlich stört er da niemanden. Mir hat es jedenfalls gut getan, diese Mischung aus Bratwurstgeruch, Dancefloor-Musik von den Fahrgeschäften, den Evergreens der Band im Bierzelt. Ich habe Gespräche mit unseren Freunden geführt, aber auch mit Fremden. Natürlich ging es oft um Veronika, aber auch um andere Themen, ganz alltägliche Dinge. Sonja spielte mit den anderen Kindern, lief herum, ließ sich im Karussell herumwirbeln. Ich bin ja n