Tag 67: Brief an Veronika

Meine liebe Veronika,

so gerne hätte ich, dass du weißt, wie es bei Sonja und mir läuft. Ob du uns zusiehst? Oder es fühlst? Ich weiß es leider nicht, deswegen schreibe ich es dir im Folgenden einfach. Wir waren oft genug räumlich getrennt, zum Beispiel während unserer Auslandsaufenthalte im Studium, du in Polen, ich in Rumänien. Das war noch in der Zeit, als Telefonieren teuer war, Smartphones Zukunftsvision und Videochats etwas aus Actionfilmen, die in irgendeiner komischen Zukunft spielten. Auch damals schrieben wir uns lange Briefe.

Also: Sonja macht sich ziemlich gut in der neuen Schule, es war goldrichtig, dass ihr Ende Mai genau diese Schule ausgewählt habt. Ich habe das Gefühl, es fällt ihr eher leicht, die Hausaufgaben halten sich noch im Rahmen. Sonja hat sich selbst Gespräche mit der Vertrauenslehrerin organisiert, zweimal pro Woche. Auch ich hatte schon ein Gespräch mit ihr, sie war von Sonjas offener und direkter Art ganz positiv angetan. 

Unsere Tochter hat im Schwimmkurs das goldene Schwimmabzeichen bestanden, vor zwei Wochen auch den theoretischen Teil. Leider finden wir den Schwimmausweis nirgendwo im Haus. Ich lasse ihn jetzt neu ausstellen, das ist zum Glück ganz einfach. Mit dem Schwimmunterricht möchte sie jetzt erstmal aussetzen. Dafür konnten wir ihre Gitarrenstunde auf den Mittwochnachmittag legen, so habe ich die Möglichkeit, sie dorthin zu begleiten. 

Sie hat auch schon Freundschaften in ihrer neuen Schulklasse geschlossen und war auch schon zu einem Geburtstag eingeladen. Ich bin echt froh, dass sie sich dort gut integriert.


Den Alltag meistern wir ganz gut zusammen, ich habe einmal pro Woche noch unsere Haushaltshilfe. Im hinteren Teil des Gartens habe ich jetzt einen Mini-Biergarten anlegen lassen, mit passendem Tisch und Sonnenschirm. Mein Uralt-Freund und Trauzeuge will mich unbedingt besuchen, wenn es einen Biergarten gibt, ist er ja nicht zu bremsen. Auch das Dach vom Schuppen ist repariert und hält jetzt hoffentlich viele Jahre. Meine Arbeit habe ich stundenmäßig erstmal reduziert, das geht Gott sei Dank. 

Es sagt einem ja niemand, aber Kindern von verwitweten Elternteilen steht Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt zu, zumindest so lange, bis eine Halbwaisenrente fließt. Letzteres kann dauern, die Deutsche Rentenversicherung erinnert mich immer an das "Haus das Verrückte macht." aus dem Film "Asterix erobert Rom". (Hier kann der Filmausschnitt angesehen werden. ) Das mit dem Unterhaltsvorschuss ging dagegen recht zügig über die Bühne. 

Ich besuche dich fast jeden zweiten Tag auf dem Friedhof. Dein Grabstein ist noch nicht fertig, das wird wohl noch einige Wochen dauern. Es ist immer schön, bei dir zu sitzen. Meistens kombiniere ich das mit der morgendlichen Hunderunde. Danach komme ich erstmal ins leere Haus zurück. Das war oft unsere Zeit, in der wir nochmal zur Ruhe kamen und langsam in den Tag gehen konnten. Ich vermisse genau diese kleinen Alltagsrituale mit dir so sehr. 

Morgen werden wir das 15jährige Jubiläumsfest der Ehrenamtler auf der Palliativstation der Göttinger Uniklinik besuchen. Ich habe seit dem 10.7 die Klinik nicht mehr betreten. Aber ich möchte mich dem stellen, diesen Ort, wo wir uns das letzte Mal gesehen haben, wieder zu betreten. Ich habe mit mir gehadert, ob ich das kann, aber es ist für mich ein Schritt Richtung Normalität, der mir nicht ganz leicht fallen wird, den ich aber gehen möchte. 

Heute war Sonjas Schule wegen zwei Demos in der Stadt früher aus. Ich habe sie spontan abgeholt und wir waren zum Mittagessen bei Salvatore. Es war ein schöner angenehmer Spätsommertag, warm aber nicht zu heiß, sonnig aber nicht blendend. Wir saßen an einem der Tische auf dem Gehweg und ich habe mich wieder an den Abend erinnern, wo wir im August 2019 nach dem Notartermin im Rahmen unseres Hauskaufs dort saßen. Damals dachten wir, wir seien nun quasi unverwundbar, du hattest deine erste Krebserkrankung hinter dir, wir würden bald im eigenen schuldenfreien Haus wohnen und wir machten Pläne. 

Hätte mir damals jemand gesagt, was wenige Jahre später auf uns warten würde, ich hätte es nie für möglich gehalten. Ja, wir haben in den letzten Jahren viel Demut lernen müssen. Und dieses Lernen ist noch keineswegs beendet: Sonja macht auf mich den Eindruck, dass sie gerade in Siebenmeilenstiefeln in Richtung junge Frau geht, die sehr bald auf eigenen Beinen stehen wird. Und ich lerne, dass es irgendwie weitergeht, dass es immer einen Weg gibt, egal wie schwer er manchmal ist. Er muss eben gegangen werden.

So viel für heute.


In Liebe


Benni mit Sonja und Isa







 

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