Tag 55: Kirmes

Ich möchte etwas über den Alltag eines Witwers, bzw. eines verwitweten Vaters und seiner verwaisten Tochter schreiben. Im Grunde genommen tue ich das schon die ganze Zeit. Ich schreibe mal über das vergangene Wochenende: Am Samstag war Sonja auf einem Ausflug mit der Kirchengemeinde, ich habe eingekauft, mit netten Leuten gesprochen, Freunde besucht. Am Abend waren wir auf einer Kirmes (aka Jahrmarkt oder Volksfest) im Göttinger Stadtteil Grone, auch dort waren wir mit einer befreundeten Familie. Gehört ein Trauernder auf eine Kirmes? Warum denn nicht, schließlich stört er da niemanden. Mir hat es jedenfalls gut getan, diese Mischung aus Bratwurstgeruch, Dancefloor-Musik von den Fahrgeschäften, den Evergreens der Band im Bierzelt. Ich habe Gespräche mit unseren Freunden geführt, aber auch mit Fremden. Natürlich ging es oft um Veronika, aber auch um andere Themen, ganz alltägliche Dinge. Sonja spielte mit den anderen Kindern, lief herum, ließ sich im Karussell herumwirbeln. Ich bin ja nicht der große Kirmesgänger, aber am vergangenen Samstag war es genau das richtige. 

Es gab mal Zeiten, da waren gerade verwitwete Frauen für ein Jahr nach der Beisetzung vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, sie durften nicht an Festen und Feiern teilnehmen, nicht heiraten und saßen in der Kirche separat. Äußerlich trugen sie Trauer, das heißt schwarze Kleidung und auch Kopfbedeckung. Man sprach vom Trauerjahr. Der tiefere Sinn lag darin, dass man bei der Entbindung eines Kindes durch die Witwe sicher gehen wollte, wer der Vater sei. Diese Tradition findet sich schon im römischen Recht als annus luctus. Das zehnmonatige Eheverbot überdauerte bis in die Nachkriegszeit und wurde erst 1998 endgültig aus den Gesetzbüchern gestrichen. De facto hatte ein Verstoß gegen dieses Gesetz im Nachkriegsdeutschland aber keinerlei Konsequenzen mehr. Ähnliche Traditionen und Konventionen existieren auch in anderen Kulturen, das römische bzw. deutsche Trauerjahr ist aber schon eher eine Langzeitversion davon.

Wenn man es hingegen streng auslegt, hätte ich auf einer Kirmes nichts zu suchen gehabt. Aber: Sonja und ich haben uns gut gefühlt und auch mal zurückgedacht: Vor einem Jahr, also im Sommer 2022, waren wir mit den selben Freunden auf eben dieser Kirmes gewesen, wir noch mit Veronika, allerdings ohne Isa. Wir hatten uns alle mit Covid-19 infiziert, es aber ohne größere Komplikationen nach wenigen Tagen überstanden. Diesmal sind wir - so wie es aussieht - ohne Infekt zurückgekehrt. So kam die schwere Last der Trauer und des Vermissens erst wieder zu mir, als wir schon zu Hause in den Betten lagen. Das wird wohl noch eine ganze Zeit so bleiben - es gehört jetzt zu Sonja und mir.




 


 

Kommentare

  1. Trauer und Freude sind keine Gegensätze. Sie gehören zusammen. Das eine würde man ohne das andere kaum aushalten oder überleben. Und warum nicht das Leben des Verstorbenen feiern, dadurch dass man selbst seine Lebensfreude feiert und sich daran erfreut, ihn in seinem Leben gehabt zu haben?
    Trauernde gehören überall da hin, wo sie sich wohl fühlen und es ihnen gut geht. Trauerjahr und Trauerkleidung ging mir echt am Allerwertesten vorbei. Meine Trauer, meine Regeln.

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