Tag 60: Zwiesprache

Ich kann nicht loslassen. Ich bin ein zwanghafter Macher. In den letzten 60 Tagen habe ich alles gegeben - mich unter Druck gesetzt: Du musst optimal für Sonja sorgen, du musst die Bürokratie abarbeiten, du musst dich um die Firma kümmern. Du musst Veronikas Klamotten aussortieren. Du musst dich um den Garten kümmern. Du musst Pläne für die Zukunft machen. 

Hey! Stop! Du musst gerade gar nichts! Es ist in Ordnung, wenn du mal eine Woche in der Ecke sitzt und weinst. 

Aber ich möchte doch, dass es mir bald wieder besser geht. Und das, was ich mache, hilft mir dabei. Ich komme auch auf andere Gedanken. Ich mochte noch nie das Steuer aus der Hand geben. Ich habe schon wieder tagelang nicht Geige geübt.

Und, was ist so schlimm daran? Du bist den ganzen Tag am Herumwirbeln. Halte doch mal inne! 

Warum? Es lenkt mich ab und ich möchte doch "Normalität".

Ich habe das Gefühl, du läufst dem, was unvermeidlich ist, davon. Lass dich mal gehen. Du solltest bedenken, dass du dem Trauerprozess nicht entkommen kannst. Wenn du davonläufst, holt er dich unerbittlich ein. Wenn du Pech hast, passiert das in vielen Jahren. Es kann dich sogar krank machen. Du entwickelst eine echte Depression, wenn du das mit der Trauer nicht in allen Facetten durchläufst.

Wie meinst du das jetzt?

Du kennst doch die Metapher mit dem Berg, auf den du steigen musst. Das hast du doch selbst geschrieben. Ich  habe das Gefühl, du hast Angst vor Rückschlägen und vor dem Unbequemen, dem Schmerzhaften,was da auf dich zukommt. Denkst du, du darfst als "Kerl" nicht weinen? Wenn du auf einen Berg steigst, musst du auch mal durch eine finstere Klamm gehen oder es geht mal ein Stück bergab. Aber so ist eben der Weg zum Gipfel. 

Gibt es keine Abkürzung? Kann ich nicht einfach ein bisschen schneller gehen? Ich bin doch eine starke Person. 

Theoretisch könntest du auch mit der Seilbahn auf den Gipfel fahren und so tun, als sei alles wie früher. Du steigst ganz unten in die Kabine und bist scheinbar kurz darauf am Ziel angekommen. Aber du hast nicht gesehen, was alles zwischen dem engen Tal und dem Blick über die Gipfel ist. Und es gehört dazu, zu sehen wie sich der Wald langsam lichtet und du immer wieder verschiedene Blicke nach unten hast. Du solltest das, was du hinter dir lässt, aus verschiedenen Perspektiven und Abständen betrachten. So ist es, wenn du auf den Berg steigst: Du hast immer wieder neue Blicke ins Tal. Du wirst den Ort im Tal so sehen, wie du ihn nie sehen konntest, als du noch dort warst. Und mit zunehmender Höhe wird dein Überblick immer besser. 

Habe ich dazu überhaupt die passende Ausrüstung? Und dauert das nicht ewig lang? Komme ich überhaupt jemals oben an?

Alles was du brauchst, hast du in dir. Und wenn du denkst, du schaffst es nicht alleine, dann lass dich immer wieder mal ein Stück von jemandem an der Hand nehmen. Oder mach eine Pause und halte inne. Es macht nichts, wenn du ein bisschen länger brauchst. Das musst du begreifen. Das ist jetzt ausnahmsweise mal etwas, was du tatsächlich musst.

Aber wenn ich zu lange Pausen mache, komme ich nie oben an. Und immer andere zu fragen, macht mich ja abhängig.

Am Anfang wirst du mehrere Pausen brauchen oder immer wieder fremde Hilfe. Aber durch das Gehen wirst du stärker. Du weisst doch, dass du deine Muskeln trainierst, wenn du sie benutzt. Du wirst immer weniger Pausen brauchen. Geh langsam, gleichmäßig und halte inne, wenn du merkst, es geht nicht weiter. Du bist im Trauermodus, du bist ein ganz besonderer Bergsteiger. Bist du bereit für diesen Weg, auch wenn er steil ist? Es ist deiner, er führt dich zum Gipfel.

Ich denke, ich bin bereit. Ich habe trotzdem ein bisschen Angst. Der Gipfel ist so hoch in den Wolken. Und da soll mein Weg hinführen?

Ja, nur Mut, dir werden die Füße wehtun, du wirst auch mal durch eine Spalte gehen, von der aus du nichts siehst. Aber je höher du bist, desto besser und klarer ist dein Blick nach unten. Und der Gipfel wird auch immer besser sichtbar und schält sich langsam aus den Wolken.

Dann gehe ich jetzt los. Und mache mir erstmal ein ruhiges Wochenende.

Ich sehe, du hast es verstanden. Ich gratuliere dir.



Kommentare

  1. Beim Lesen musste ich schmunzeln. Mein Mann starb im Advent 2020. Ich hatte seltsamerweise sofort einen Plan im Kopf, was alles wann zu erledigen sei. Wann ich die Bürokratie erledige, wann das Büro aussortiere, seine Kleidung, all den anderen Kram. Bis Ostern wollte ich fertig sein und dann beschwingt und befreit in den Frühling starten. So die Theorie. Ich hatte die Rechnung ohne meine Trauer gemacht. Den letzten bürokratischen Akt erledigte ich im Sommer 2022. Das Büro sieht schlimmer aus als zuvor. Lediglich Garage und Kleidung hab ich bis heute geschafft. Die Trauer hat ihr eigenes Tempo. Zu akzeptieren, dass das neue Normal nur noch wenig mit der alten Normalität zu tun hat, ist meine größte Herausforderung.

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