Tag 59: Ablösung
Ich tausche mich oft aus. Mit anderen jungen Verwitweten. In Zeiten von Internet und Social Media ist das ein Leichtes und hat viel Positives: Man weiß, da draußen gibt es andere, die vor den gleichen Problemen stehen, seien es nun die Trauer an sich, die Einsamkeit, aber auch die Scherereien mit Behörden und Ämtern, die wohl dazugehören wie der Deckel zum Topf.
In den virtuellen Gruppen herrscht angenehmerweise ein offener und wertschätzender - teilweise fast schon liebevoller - Umgangston, was in der schönen neuen Onlinewelt nicht immer selbstverständlich ist. Alle wissen, man ist in seinem tragischen Schicksal geeint, den Lieblingsmenschen für immer und unwiederbringlich verloren zu haben. Das verbindet und man kommt schnell auf eine persönliche Ebene. Die entscheidende Frage lautet: Wie ist "es" bei dir passiert? In der Regel schreibt man das schon in die Selbstvorstellung.
Ich habe mir selbst und auch in den virtuellen Räumen oft die Frage gestellt, welchen Unterschied es macht, wenn dem Tod des Partners eine lange tödiche Krankheit vorausging. Man kommt sowohl in Kontakt mit Menschen, die lange zusehen mussten, wie ihr Lieblingsmensch immer schwächer wurde, sich im Wesen verändert hat, zum Pflegefall wurde, nicht mehr ansprechbar war. Und dann gibt es die, welche ihren Partner bzw. ihre Partnerin von einem Moment auf den anderen verloren haben: durch Unfall, Schlaganfall, Infarkte oder in extremen Fällen durch Suizid. Manche konnten die verstorbene Person nicht einmal mehr sehen.
Ich bin nach vielen Chats, Mails und Gesprächen der Meinung, dass letztere, also die mit dem Spontanverlust, nochmal Unglück im Unglück hatten bzw. haben: Bei Veronika und mir war klar, dass bestimmte Dinge nicht mehr gingen, nach einer Chemotherapie ist eine weitere Schwangerschaft nicht mehr möglich. Wir hatten auch mal über die Aufnahme eines Pflegekindes nachgedacht, mit einer potenziell tödlichen Krankheit ist man aber als Pflegefamilie aus dem Rennen.
Mit dem erst langsamen und später schnelleren Fortschreiten der Krankheit begann das langsame Abschiednehmen vom Leben, wie wir es als Familie oder Paar hatten: Die Sorgen nahmen zu und drangen in den Alltag ein wie Krebszellen in einst gesundes Gewebe. Krankheit, Therapie und Nebenwirkungen wurden immer mehr dominierendes Thema. Aktivitäten, die wir gemeinsam unternommen hatten, waren nicht mehr möglich, wie z. B. längere Wanderungen. Ich könnte hier viele Beispiele anführen, was sich alles bei uns verändert hat. Teilweise habe ich das auch an anderen Stellen beschrieben. Am Ende dieser Entwicklung stand unausweichlich die gemeinsame "Planung" von Veronikas Abschied aus dieser Welt. Ich wünsche keinem Paar, dass es solche Gespräche führen muss: Anstatt über die Gestaltung der anstehenden Sommerferien sprachen wir im Juni 2023 über die Grabstätte, die Lieder für die Trauermesse und den Nachlass.
Ich bin heute aus zwei Gründen "dankbar", dass wir die letzte gemeinsame Zeit bewusst und aktiv gestalten konnten, wohl wissend, was kommen würde: Zum einen hat es mir eine Menge Arbeit erspart, die Pläne lagen beim Bestattungsinstitut in der Schublade und ich konnte sicher sein, dass alles auch Veronikas Vorstellungen entsprach. Zum anderen konnte ich mit dem so wichtigen Prozess der Ablösung von Veronikas und meinem gemeinsamen Leben schon vor ihrem Tod beginnen. Ich wusste bereits, wo ich mich mit Leidensgenossen austauschen könnte, welche Hilfsangebote es gab. Wir segelten zwar durch einen schweren Sturm, aber hatten immer noch das Steuer in der Hand, es konnte uns nicht plötzlich aus der Hand gerissen werden.Wir wurden - so kann ich heute schreiben - nicht so wie andere Witwen und Witwer von einem Moment auf den anderen unserer gemeinsamen Vergangenheit und Zukunft beraubt, es war im späten Frühjahr 2023 abzusehen, dass die gemeinsame Zukunft nur noch von kurzer Dauer sein würde. Unsere gemeinsamen Gespräche wurden existentieller, ich begann mich damit zu beschäftigen, wie ich die Zeit "danach" gestalten könnte.
Veronikas Tod kam unerwartet früh, aber nicht unerwartet. Es war ein schlimmer Tag, sie kalt und leblos zu sehen, war unerträglich und die Erinnerung daran lässt mir auch heute noch das Blut gefrieren. Ich funktionierte in den Tagen danach gemäß vorgesehenem Protokoll und konnte mich an dem entlangarbeiten, worauf ich mich gedanklich vorbereitet hatte - sowohl organisatorisch als auch psychisch. Noch an ihrem Todestag meldete ich mich auf verwitwet.de an, einer Plattform für junge Verwitwete.
Wer seinen Lieblingsmenschen hingegen unerwartet früh verliert, ist erstmal unvorbereitet, hat keine Kenntnis über die erforderlichen administrativen Schritte, weiß nicht, wo es Hilfe gibt. Schlimmer ist - so durfte ich in Gesprächen lernen - der Schock, das Trauma, wenn möglicherweise die Polizei Überbringer der schlechtesten aller denkbaren Nachrichten ist. Zwar ist es diesen Menschen erspart geblieben, die schleichende Veränderung, den langsamen körperlichen Verfall ertragen zu müssen. Das war es aber auch schon mit den "Vorteilen": Menschen wie Sonja und mich, vorausgesetzt, sie schätzen die Situation richtig ein, trifft hingegen die Todesnachricht nicht unerwartet - schlimm genug ist sie trotzdem, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.
Für die, welche das Diesseits verlassen haben, ist - so denke ich mir - die letzte die angenehmere Art zu sterben. Ich wünsche niemandem eine solche Therapie-Dauerschleife wie Veronika, die auch dann nicht aufhört, wenn die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu besiegen, nur noch minimal ist. Ich persönlich möchte lieber einfach umfallen und vor allem meinen Angehörigen und Freunden so wenig wie möglich zur Last fallen.
Für das, was ich für Veronikas und meinen Fall beschrieben habe, kennt die Trauerforschung den Begriff der antizipatorischen Trauer. Hier könnt ihr mehr dazu lesen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die eigentliche Trauer schneller vergeht, wenn sie vor dem Tod des geliebten Menschen bereits vorweggenommen wurde. Dennoch, manchmal habe ich das Gefühl, ich habe es ein wenig leichter, weil ich vor dem Tragen meines schweren Päckchens zumindest überlegen konnte, mit welchen Hilfsmitteln ich es tragen könnte.
Hinzu kommt: Die Veronika, an die ich mich am liebsten erinnere und deren Bilder auch hier im Haus stehen, hat lange Haare - und oft die typischen zwei langen Zöpfe. Es ist die fröhliche, stets heitere, beschwerdefreie und unbeschwerte Veronika aus der Zeit vor der Krebserkrankung. Und diese Version von Veronika hat uns leider schon im November 2017 verlassen.
Ja, darüber hab ich mir auch schon häufiger Gedanken gemacht. Mein Mann starb plötzlich an einer Lungenembolie. Morgens zum Arzt, nachmittags tot. Plötzlich aus dem Nichts heraus der Boden unter den Füßen weg, das Leben in Trümmern. Mittlerweile bewerte ich das nicht mehr, was vermeintlich für ein Paar "angenehmer" sein kann, der plötzliche oder der zu erwartende Tod. Egal wie, es ist für die jeweils Betroffenen der persönliche Super-GAU. Ich weiß, dass die Todesumstände meinem Mann entsprochen haben, mit einem langen "Dahinsiechen" hätte er nicht umgehen können. Davon mal ab, dass 52 zu früh ist. Ich hab meinen Frieden damit gemacht. Er gab mir das Geschenk, im Krankenhaus zu sterben und nicht zuhause tot umzufallen. Es gab keine Auffindesituation, kein Reanimationsszenario und keine "schlimmen" Bilder für mich in meinem Kopf. Ich kann weiter unbelastet alle Zimmer unserer Wohnung nutzen, da ist kein Kopfkino. Dafür bin ich dankbar. Unsere Unterlagen und unser PC waren gewohnheitsmäßig das reine Chaos, aber ich habe mich durchgebissen und wie durch Zauberhand die benötigten Unterlagen schnell zur Hand gehabt. Mit einem Bestatter hab ich mich am Telefon angelegt. Wie man in diesem Beruf so unempathisch sein kann, ist mir ein Rätsel. Ich bin dann zur Konkurrenz gegangen, die uns warmherzig durch den Prozess des Abschiednehmens getragen hat. Und nie zuvor hab ich mein Studium der Sozialpädagogik so schätzen gelernt, wie in dieser Lebenssituation. Zu wissen, welche Hilfen möglich sind, welche Ämter oder Institutionen sie anbieten, wohin man sich wenden kann und muss, war Gold wert. Und nicht zuletzt hat es mir nach langer Zeit als Hausfrau und Mutter den Wiedereinstieg in den Beruf ermöglicht und sichert nun unseren Lebensunterhalt.
AntwortenLöschenDieser plötzliche Tod war ein Schock und hat etwas Traumatisches an sich und dennoch bin ich der Meinung, dass all das, wie es sich zugetragen hat, genau so war, dass ich es aushalten und tragen konnte und weiter aushalten und tragen kann. Meine große Tochter sagte in einem philosophischen Moment mal: weißt Du Mama, vielleicht ist das jetzt passiert, weil Gott genau weiß, dass Du das in Deiner momentanen Lebenssituation gut überstehen kannst, in 20/30 Jahren wärst Du daran zerbrochen. Nunja, inwieweit Gott da seine Finger im Spiel hatte, lass ich mal dahin gestellt, aber ihr Gedankengang hat was.