Tag 81: Liebe

Wer jetzt etwas voll Romantisches erwartet, sei gewarnt: Ich werde mich dem Thema Liebe im Kontext einer frühen "Verwitwung" - das Wort habe ich  gerade erfunden - hier mal ganz nüchtern und pragmatisch nähern. Eingangshypothese ist für mich: Ohne das Konzept der romantischen Liebe wäre die Menschheit um jede Menge Märchen, Poesie, Literatur, Dramen, Opern und Filme ärmer. Viele dieser Kunstwerke enden interessanterweiser spätestens mit der Hochzeit des Protagonistenpaares. Wir erfahren nicht, wie es sich für Dornröschen unter den höfischen Zwängen am Schloss ihres Prinzen lebte, wir wissen nicht, ob Schneewittchen nach der Geburt des x-ten Kindes noch immer so eine makellose Schönheit war. Und heute, in der realen Welt: Das Statistische Bundesamt verlautbart, die durchschnittliche Ehedauer liege bei 15,1 Jahren. Ca. 35 Prozent der Ehen werden geschieden. Heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass das gegenseitige Versprechen "Bis dass der Tod uns scheidet" eingehalten wird, liegt bei etwa 65 Prozent. Den Rest erledigen Familiengerichte. 

Wie ist das jetzt mit der verflixten Liebe? Heute haben wir immer noch die romantische Liebe aus den o. g. Kunstwerken als dauerhaften Idealzustand in den Köpfen. Früher war die Menschheit da pragmatischer, die oft nach sozio-ökonomischen Kriterien arrangierte Ehe die Regel. In vielen Ländern ist das heute noch so, für eine romantische Liebe à la großes Kino ist da oft wenig Platz und Verständnis vorhanden. 

Bei Verwitwungen braucht es keine Scheidungsanwälte und keine Familiengerichte zur Trennung. Im Idealfall geht ein glückliches Paar so auseinander, dass eine Person als Witwe oder Witwer zurückbleibt, schließlich sollte ja der Tod die Scheidung übernehmen und nicht die Justiz. Eine Verwitwung ist - im Hinblick auf das gegebene Versprechen - sozusagen dessen einzig mögliche Erfüllung und damit im Moment der Eheschließung für die Zukunft akzeptiertes Schicksal eines Ehepartners. Ich kenne keine Ehepartner, die beide gleichzeitig schmerzfrei aus dem Leben geschieden sind. Eine(r) von beiden muss sich früher oder später mit dem Witwen-/Witwerdasein herumplagen, das ist der Preis für eine krisenfeste Ehe.

Trotzdem, die immerwährende Liebe - so behaupte ich - wandelt sich, wenn ein Ehepartner erkrankt, sogar besonders stark. Ich habe mich ein bisschen mit der Liebe beschäftigt, auch theoretisch, und bin, wie so oft im antiken Griechenland fündig geworden. Man kann im Altgriechischen drei Wörter für Liebe finden, hinter denen - bei genauer Betrachtung - jeweils etwas Anderes steht:

Eros in einer antiken Darstellung

1. Éros. Die romantische, auch körperliche Liebe. Sie ist am Beginn einer "Beziehung" das, was für das enge Zusammenwachsen sorgt. Man könnte sie auch mit dem Verliebtsein gleichsetzen: Die Anwesenheit des/der Geliebten sorgt für erhöhte Herzfrequenz, der Körper produziert Botenstoffe, die den Verstand ausschalten, übrigens genau die gleichen Neurotransmitter wie bei Stress oder Drogenkonsum, v.a. Dopamin. Der Wunsch nach körperlicher Nähe ist so groß, dass alle anderen Dinge in den Hintergrund treten. Dieser Gemütszustand dauert nicht ewig an. Untersuchungen haben ergeben, dass mit der anfänglichen Begeisterung nach allerspätestens zwei Jahren Schluss ist. Diese Art der Liebe - oder des Verliebtseins - tritt allmählich in den Hintergrund. Dann kribbelt oder knistert es plötzlich nicht mehr - oft ist bei vielen Paaren dann schon Schluss. 

2. Philia. Die freundschaftliche Liebe - oder sollte man sagen Zuneigung. Sie findet sich in allen Arten von als positiv empfundenen Beziehungen, zwischen engen Freunden, aber auch zwischen Geschwistern. Sie sollte sich - so weiß es die Liebesforschung - in jeder Paarbeziehung im Laufe der Zeit entwickeln. Veronika bezeichnete mich nach einigen Jahren mal auch als ihren besten Freund. Das klingt jetzt nach der ungeliebten Friendzone. Das ist aber nicht gemeint. Ohne diese Qualität der Liebe - so weiß man heute - ist eine lange "Beziehung" nur schwer machbar. Veronika und mir waren gute Gespräche mit Tiefgang immer wichtig. Konflikte konnten wir auf unsere konstruktive Art mit einer Prise Humor lösen. Wir hatten im Urlaub die gleichen Interessen. Diese Liste könnte ich beliebig fortführen.

3. Agapé. Die fürsorgende, aufopfernde Liebe. So ziemlich genau das, was man einem Säugling/Baby/Kind entgegenbringt. Die Bilanz ist für einen selbst nicht so super: Man investiert viel Zuneigung und Fürsorge und bekommt nicht so wirklich was zurück: Vom Neugeborenen gibt's anfangs nicht mal ein Lächeln. Wenn in einer Paarbeziehung ein Partner alt, krank, hilfebedürftig o. Ä. wird, dann kommt diese Art der Liebe zum Tragen. Das zuvor ausgegelichene Geben und Nehmen bekommt eine deutliche Schlagseite. Das kann bis zur Selbstaufgabe gehen, etwa wenn ein Partner schwer pflegebedürftig wird. Als Veronika Ende Juni 2023 in der Klinik lag, wollte sie mir den zu erwartenden Pflegeaufwand ersparen, den eine Versorgung zu Hause mit sich gebracht hätte. 

Diese Spielarten der Liebe sind bei allen Paarbeziehungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Eine belastbare und erfüllende "Liebe" braucht - wie ich finde, alle drei Spielarten. Ich hoffe, ich konnte hier ein wenig deutlich machen, warum "Liebe" so manches aushält - oder in manchen Fällen eben nur wenig. 




   

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