Tag 76: Leben

Wer mich etwas besser kennt, weiß, das sich Deutsch (als Fremdsprache) unterrichte. Meine "Schüler" sind medizinische Fachkräfte aus dem Ausland, hauptsächlich Ärzte. Ein wichtiges Thema im Unterricht mit fortgeschrittenen Deutschlernen sind Präfixe beim Verb. Zum Beispiel: ab-stellen, an-stellen, auf-stellen, aus-stellen. Dabei geht es darum, wie sich die Bedeutung des Verbs durch das Präfix verändert. Ich möchte das hier mal demonstrieren, und zwar anhand des Verbs leben.  


ableben

formeller Ausdruck für sterben. Müssen wir irgendwann alle. Beim Ableben eines Menschen bleiben ein paar sehr unglückliche Menschen zurück. 


aufleben
nach einer Zeit der Passivität und der Niedergeschlagenheit wieder aktiver werden, bewusst am Leben teilnehmen und Freude erleben können. Wann das passiert, ist bei allen, die einen geliebten Menschen verloren haben, anders. Und es ist sicher kein linearer Weg, der dorthin führt. An manchen Tagen geht es schon ein bisschen, an manchen noch gar nicht.


sich ausleben

sein Leben ohne Einschränkungen genießen. Angeblich sollte man das von Zeit zu Zeit tun. Gemeinhin wird empfohlen, es zu tun, bevor man sich in feste Strukturen bindet, zum Beispiel vor einer Familiengründung. Veronika und ich haben sehr spät unsere Tochter bekommen und hatten viele Jahre lang ein schönes Pärchendasein. 


sich einleben

sich an eine neue Umgebung gewöhnen. Als wir uns im neuen Haus eingelebt hatten, kam der Tumor als ungebetener Mitbewohner zurück.


überleben

etwas Schweres, Gefährliches lebend überstehen, biologisch seine Vitalfunktion am Laufen halten. Für viele Menschen in Sonjas und meiner Situation erstmal das Wichtigste, oft auch in sozio-ökonomischer Hinsicht: Verwitwete stehen manchmal vor immensen ökonomischen Problemen, wenn ein Geldverdiener aus einer Familie ausfällt. Es ist nicht selten, dass die ehemals gemeinsame Wohnung finanziell nicht gehalten werden kann und zusätzlich zum Verlust des geliebten Menschen der Verlust der Umgebung hinzukommt. Als Dank dafür rutscht man dann nach einem Jahr in eine ungünstigere Steuerklasse.


weiterleben


die Existenz in einer bestimmten Art und Weise fortsetzen. Das steht für Sonja und mich momentan im Mittelpunkt: Wie können, aber auch wie wollen wir nun weiterleben? In dieser Situation, nach diesem Schicksalsschlag? Ich sehe es auch als Aufforderung an mich, mein Restleben - und in Teilen Sonjas Leben, zumindest, bis sie flügge wird - irgendwie zu gestalten, mit allen Hindernissen, Rückschlägen und Überraschungen, die dazugehören. Statistisch gesehen bleiben mir noch 37 Jahre. Das ist so lange, wie vom Beginn meiner Gynmasialzeit bis heute. Ein Freund, mit dem ich gestern Abend unterwegs war, sagte mir: "Du musst dich neu erfinden." Er hätte es besser nicht formulieren können. 


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