Tag 70: Wege

Ich führe gerne Gespräche mit Leidensgenossinnen und Leidensgenossen - wie bereits erwähnt ist es heute nicht allzu schwer, im virtuellen Raum in Kontakt zu kommen. Ich bekam dort vor einigen Tagen die Frage gestellt. "Und natürlich wünscht sich jeder Mensch, eines Tages (wieder) glücklich zu sein, aber was genau bedeutet das eigentlich?"

Nun, ich möchte mir nicht anmaßen, eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu finden. Mir ist heute eine mögliche Antwort in den Sinn gekommen, und ob diese zutreffend ist, werde ich erst in Zukunft (hoffentlich) wissen. 

Heute sind Traurigkeit, Schwermut und Erinnerungen an "bessere Zeiten" allgegenwärtig. Diese Emotionen kommen und gehen, wann und wie sie wollen. Und das tun sie ziemlich häufig. Den Weg auf dem Foto sind Veronika und ich sehr oft zusammen gegangen. Entweder auf Spaziergängen, später auf Hunderunden, manchmal auch, um Sonja zu ihren Sportkursen zu bringen. (Spaziergänge waren in Covid-19-Zeiten im Frühjahr 2020 so ziemlich der einzig mögliche Zeitvertreib.) So ist dieser Weg für mich heute jedesmal eine schmerzhafte Angelegenheit, wenn ich ihn gehe - weil er voller Erinnerungen ist. Dabei bricht der Verlustschmerz unkontrolliert durch. Die Trauer bricht aus, wabert unkontrolliert durch mein inneres Haus. 

Irgendwo habe ich gelesen, dass die Trauer und die Erinnerungen einen festen Raum in diesem inneren Haus bekommen sollten. Die Tür zu diesem inneren Raum kann ich vielleicht - irgendwann in der Zukunft - öffnen und schließen, wann ich möchte. Ich kann dann diesen Erinnerungsraum betreten, wann ich möchte und dort auch Traurigkeit, Tränen und auch liebevolle Erinnerungen zulassen. 

Vielleicht kann ich dann auch diesen Weg wieder gehen, ohne die Schwere und Traurigkeit, die mich heute überkommt. Irgendwann wird der Rucksack der Erinnerungen, den ich wie jeder Mensch trage, auch andere Dinge enthalten, positive Dinge aus dem Leben "danach". 

All das braucht Zeit. Ob diese Zeit alle Wunden heilt? Ich weiß es nicht. In irgendeiner Form stillt sie sicher die Blutung. Bei großen Wunden bilden sich dann Narben. Diese bleiben mit Sicherheit sichtbar. Aber in der Regel funktionieren die vernarbten Gliedmaßen wieder (fast) so wie früher. 

Vielleicht - so habe ich mir gedacht - sollte man versuchen, in vermeintlich unwesentlichen Dingen irgendwann wieder kleine Funken Lebensfreude zu finden. Und so den Rucksack der Erinnerungen langsam wieder füllen. Und vielleicht kann man so auch eines Tages wieder glücklich werden. 


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