Tag 23: Mehr als eine Lebenshälfte

Veronika und ich haben uns Ende 1996 kennen gelernt. Damals war Deutschland gerade sechs Jahre wiedervereinigt. Die Europäische Union endete an mehreren Stellen an der Grenze Deutschlands. Der Kanzler hieß Kohl. Das Internet gab es schon, aber es war noch etwas für Nerds. Handys waren ein paar hundert Gramm schwer und es war schon toll, wenn man damit Kurznachrichten - genannt SMS - senden konnte. Wenn wir in der Uni-Bibliothek ein Buch suchten, gingen wir oft noch an Katalogkästen mit Karteikarten. Wir jobbten als Studenten im Kino, dort liefen analoge 35-Millimeter-Filme durch wuchtig anmutende Projektoren. Überhaupt gab es in München noch einige Stadtteilkinos, wo wir oft abends hingingen. Die Eintrittskarten kosteten am Kinotag in der Regel unter zehn Mark.

Wir waren viel auf Reisen. Gerne fuhren wir mit dem Zug in Städte, die uns interessierten, oft in Italien, Spanien oder Portugal. Unser wichtigster Reisebegleiter waren die Backpacker-Reiseführer aus den Reihen "Let's Go" oder "Lonely Planet". Dort fanden sich Auflistungen mit günstigen Pensionen und Gasthäusern, die wir dann abklapperten auf der Suche nach freien Zimmern. Gut, dass wir mit Reiseschecks und Rucksäcken und nicht mit Kind und Koffer unterwegs waren. Veronika fotografierte damals schon gerne und teilte sich die freien Bilder auf ihrer Analogkamera genau ein: Für architektonisch interessante Orte musste es ein Schwarz-Weiß-Film sein.
Nach dem Urlaub brachten wir die Filme zum Entwickeln in einen Fotoladen und hofften, das die Bilder "was geworden" waren. 
Wir konnten uns nicht vorstellen, mal eine Familie mit Kind, Hund und Reihenhaus am Stadtrand zu werden. Die Unvereinbarkeit unserer heutigen Lebensform mit unseren damaligen Idealen bestätigten wir uns immer wieder bei langen Kneipenabenden.
Diese Erinnerungen zeigen mir, wie wandlungsfähig wir als Menschen doch waren und sind. Und zudem mischt sich bei mir ein Gefühl riesiger Dankbarkeit für diese gemeinsame Zeit, aber gleichzeitig eine tiefe Traurigkeit, dass ich diese Erinnerungen nicht mehr mit ihr teilen kann. Die Endgültigkeit ihres Todes rückt langsam in mein Bewusstsein, je näher der Tag der Trauerfeier rückt.



 

Kommentare

  1. Diese Wandlungsfähigkeit wird Dich und Sonja durch Euren neuen ungewollten Lebensabschnitt tragen. Daran glaube ich ganz fest!

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