Tag 318: Brief an Mittrauernde

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

viele von euch sitzen irgendwie im gleichen Boot wie Sonja und ich: Ihr habt euren Lieblingsmenschen verloren, ob durch lange Krankheit oder durch ein unerwartetes Ereignis, egal wie: Ihr habt einen "Beziehungsstatus", den ihr niemals wolltet. Es ist auch egal, ob ihr offiziell verwitwet seid oder ob ihr ohne Trauschein ein glückliches Paar wart. Schmerzhaft ist es so oder so.

Bei Sonja und mir jährt sich der Todestag bald zum ersten Mal. Vor einem Jahr, gegen Ende Mai 2023,  zeichnete es sich ab, dass der Tumor schneller sein würde als die stärksten Medikamente. Ich durfte viel lernen seitdem, über das Leben, über mich und über alles Zwischenmenschliche. Heute möchte ich euch aufschreiben, was Sonja und mich durch diese Zeit gebracht hat und mehr und mehr nach vorne blicken lässt. Ich schreibe euch das als Ratschläge, ohne dass es Schläge sein sollen. Ob und wie es euch hilft bzw. geholfen hat, müsst ihr für euch herausfinden:

1. Holt euch jede Art von Hilfe und Unterstützung, ob von Familienmitgliedern, Freunden, Ärzten, Psychologen, Beratungsstellen jedweder Art. In den ersten Tagen und Wochen werden euch viele aus dem privaten Umfeld die Unterstützung von selbst anbieten. Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr rückt das in den Hintergrund. Macht auf euch und eure Bedürfnisse aufmerksam. Ihr befindet euch in einer Ausnahmesituation.

2. Lernt eure Rechte kennen. Niemand sagt sie euch einfach so. Hierzu drei Beispiele (für Deutschland): Wenn ihr Kinder erzieht, könnt ihr oft statt der Witwenrente die Erziehungsrente beantragen. Diese läuft zwar nur bis zur Volljährigkeit der Kinder, kann aber für euch die finanziell bessere Option sein. Lasst euch das von der Rentenversicherung ausrechnen. Euren Kindern steht Halbwaisenrente zu. Wenn diese niedrig ausfällt, habt ihr oft Anspruch auf Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt eurer Gemeinde. Ihr habt zudem Anspruch auf (kostenlose) Hilfe bei der Kindererziehung, z. B. durch einen Erziehungsbeistand

3. Akzeptiert, dass sich euer soziales Umfeld ändern wird. Es ist möglich, dass viele nicht wissen, wie sie euch gegenübertreten sollen und somit Kontakte einschlafen. Seht es ihnen nach. Wer keinen Weg findet, mit euch und eurer Ausnahmesituation umzugehen, ist möglicherweise nicht der richtige Umgang.

4. Sucht euch Menschen, die ein gleiches oder ähnliches Schicksal erlitten haben. Der Austausch ist wichtig, sowohl emotional, als auch in lebenspraktischen Fragen. Wenn es vor Ort keine Trauergruppe o. Ä. gibt, nutzt Angebote im Netz, zum Beispiel:  www.verwitwet.de oder www.nicolaidis-youngwings.de. Auch in den gängigen sozialen Netzwerken gibt es entsprechende Gruppen.

5. Lasst nur solche Menschen in eurem Umfeld zu, die euch gut tun. Ihr seid in einer Extremsituation, es ist nicht eure Aufgabe, euch um andere oder um deren Angelegenheiten zu kümmern. Ihr braucht eure Energie und Kraft komplett für euch und natürlich eure Kinder, wenn ihr welche habt.

6. Gestattet niemandem, euer Handeln und euren Trauerprozess zu bewerten und zu beurteilen: Euer Trauerweg ist für euch richtig, es hat niemanden zu interessieren, wie ihr mit der für euch so belastenden Situation umgeht. Insbesondere in Bezug auf eine neue Liebe fühlen sich oft dritte bemüßigt, zu urteilen und sich moralisch über euch zu stellen. Es ist ganz allein eure Entscheidung, wann und ob ihr wieder jemanden in euer Leben lasst, ob wenige Wochen "danach" oder nie mehr.

7. Wehrt euch gegen Relativierungen: Niemand hat das Recht, euren Schicksalsschlag zu vergleichen, etwa: Als dies und das passiert ist, ging es mir mindestens genau so schlecht, oder: Eine Scheidung oder Trennung ist ebenso schlimm wie der Tod des Partners, etc. 

8. Zuletzt: Findet Dinge, die euch gut tun: Bei Sonja und mir sind es Reisen. Ich bin derzeit allerdings nicht bereit, an Orte zu fahren, wo ich Urlaube mit Veronika verbracht habe. Viel mehr haben wir uns Ziele ausgesucht, an die Veronika nicht so gerne gereist wäre. Bei euch kann das was Anderes sein: Bewegung, ein neues Hobby, gutes Essen, Wellness, etc. Oder einfach nur eine Woche im Bett liegen. Es ist OK. 

Was für euch gut ist, müsst ihr herausfinden und ausprobieren. Ich wünsche euch dabei gutes Gelingen.  





Kommentare

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes