Tag 255: Allegra


In unserer Heimat Niedersachsen sind seit Beginn dieser Woche Osterferien. Sonja, Isa und ich haben uns wieder auf Reisen begeben. Da Sonja eine gewisse Vorliebe für die Schweizer Alpen entwickelt hat, sind wir diesmal in Scuol im Unterengadin, ein weiteres Mal in der Schweiz. Durch diesen Ort fließt ebenso wie durch den Ort mit Veronikas Elternhaus (Brannenburg in Oberbayern) der Inn. Bei Brannenburg ist dieser bereits ein gemächlicher breiter Fluss auf dem Weg zur Donau. Hier, gut 200 Kilometer weiter flussaufwärts, ist er kaum mehr als ein Gebirgsbach. 

Die Gegend hier wirkt an vielen Stellen wie aus einem Bilderbuch: traditionelle Bauernhäuser mit trutzigen Mauern, Außenfresken und kleinen Fenstern, akkurate gepflegte Dorfstraßen, dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein und - zu dieser Jahreszeit - schneebedeckte Gipfel. Für Zugliebhaber wie mich gehören die bekannten roten Züge der Rhätischen Bahn unbedingt zum Reiseerlebnis dazu. 

Häuser im Ortskern von Scuol

Ich wollte diesen Ort schon lange einmal besuchen: Er befindet sich in einem Teil der Schweiz, in dem sehr viel Rätoromanisch gesprochen wird, eine romanische Sprache, die ein bisschen klingt, wie eine Kreuzung aus Italienisch und Französisch. Vor 23 Jahren habe ich mein Studium der Romanistik an der Universität in München abgeschlossen, in diesem Zusammenhang habe ich mich auch mit dem Rätoromanischen befasst. 

Ich wollte schon immer mal diese seltene Sprache im Alltagsgebrauch hören und vielleicht ein paar Brocken davon aufschnappen. Besonders gut gefällt mir die informelle Grußformel "Allegra". Sie kann mit "heiter, fröhlich" übersetzt werden, Musikliebhaber kennen "Allegro" als Satzbezeichnungen für einen heiteren, beschwingten, eher schnellen Satz einer Sonate oder Sinfonie. Mir ist diese Grußformel sehr sympathisch. Neben schönen Spätwinterwanderungen kann ich hier also meinem Interesse an Sprachen frönen. 

Meine besondere Leidenschaft für alle Sprachen, die entstanden sind, als die Römer mit ihrem Latein am Ende waren, brachte mich erfolgreich durch meine Zeit an der Universität. Ungefähr zehn Jahre nach meinem Magisterexamen kam ich durch meine Rumänischkenntnisse (Rumänisch war mein Nebenfach gewesen) an den ersten medizinischen Sprachkurs, damals eben für eine Gruppe rumänischer Ärzte, was mein weiteres Arbeitsleben bis heute prägt. 

Auch wenn mein Berufsweg nicht ganz geradlinig verlief, so bin ich doch den Römern dankbar, dass sie durch ihre Feldzüge weite Teile Europas von der lateinischen Sprache überzeugen konnten. Die Tatsache, dass sich dieses Latein in verschiedenen Abwandlungen (Man zählt neun romanische Sprachen) bis heute halten konnte, fasziniert mich nach wie vor. Diese Faszination bekam in den späten Neunziger Jahren auch Veronika oft zu spüren: Engelsgeduldig hörte sie sich meine Ausführungen über Dialekte, Sprachgeschichte und Satzstellungen an - ob sie mich dabei immer ganz ernst nahm, kann ich heute nicht gewiss sagen. 

Wahrscheinlich fand sie mich in meiner Begeisterung für dieses Spezialthema einfach ganz "süß", wie sie mir oft gesagt hatte. In gewisser Hinsicht haben mir die romanischen Sprachen also auch den Weg zu Veronika geebnet, ebenso wie den Umweg in meinen heutigen Broterwerb. In diesem Sinne sage ich auf Rätoromanisch "Danke": Grazia fitg!      

Kommentare

  1. Ich bin durch ihre Veröffentlichung auf Facebook 'jung verwitwet' auf Ihren Beitrag gestossen. Eine wunderschöne Gegend besuchen Sie mit Ihrer Tochter. Ich habe früher dort einige Sommer verbracht und war auch begeistert von dieser Gegend. Sent, Ftan, Guarda, S-charl, Ardez.... der CH Nationalpark...auch wenn es bei mir viele Jahre zurückliegt, erinnere ich mich mit grosser Freude an diese Gegend. Ich lebe mit meinen beiden Kindern 16 und 19 in der frz Schweiz. Mein Mann war Schweizer und nach seinem Tod 2015 habe ich es nicht fertiggebracht, Ihnen auch noch Ihren Alltag, Schule, Freunde zu rauben. So bin ich hier geblieben und nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Es ist eine herrliche Gegend, der See vor der Nase, das Jura im Rücken und die Alpen nicht fern... Herzliche Grüsse.Sabine

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes