Tag 246: Stille

Es ist Vormittag, unsere Hundedame hat es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht, Sonja erfüllt ihre Schulpflicht und es ist ruhig im Haus. Draußen mag der Hochnebel nicht so recht weichen, so schwindet die nächtliche Kälte nur langsam. Auch die Vögel haben dabei keine Lust auf ihren Gesang. Zudem ist es fast windstill. Und so ist es auch im und ums Haus still. Und diese Stille ist etwas, was mir immer wieder auffällt, wenn ich an die gleiche Jahreszeit vor einem Jahr denke: Damals verschlechterte sich Veronikas Zustand langsam, aber stetig, die Ärzte am Uniklinikum waren auf dem Weg in den Panikmodus, probierten eine neue Therapie, die auch nicht so wirklich wirken wollte. Aber: Auch wenn sie schon sehr oft zu ambulanten Terminen in der Klinik war, so war doch mehr Leben im Haus. Vormittags hörte ich sie an ihrem Schreibtisch sitzen, um die Mittagszeit aus der Küche, am Nachmittag aus der Waschküche, abends übten Sonja und Veronika zusammen Gitarre. Später, wenn ich mich nach zehn ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, hörte ich meistens noch das Klappern der Computertastatur, an der ich jetzt gerade schreibe. Veronika pflegte ihre Emailkorrespondenz mit der gleichen Sorgfalt wie früher ihre Briefkontakte, was dementsprechend viel Zeit in Anspruch nahm.  

Heute ist es ruhiger im Haus, und ich fühle diese Stille, weil sie mich immer wieder daran erinnert, dass hier jemand fehlt. Dabei ist es nicht nur ihre Stimme, sondern insbesondere die Geräuschkulisse, die daran erinnert, dass da eben noch jemand ist: Jemand, mit dem ein spontanes Gespräch möglich ist, jemand, mit dem man zwischendurch einen Kaffee trinkt, jemand, der einem einen Handgriff abnehmen kann.

Diese Stille erinnert mich daran, dass ich auf mich gestellt bin. Dass Sonja immer noch auf dem Weg in ein neues Leben sind und es nie mehr zurück geht. Dieses "nie mehr zurück" ist nach wie vor das unbegreiflichste und führt mir immer wieder vor Augen, dass auch meine Zeit auf diesem Planeten begrenzt ist.  

In unserem Totenkult spielt auch die Stille eine große Rolle: Freidhöfe sind keine Orte für lautes Reden, für Musik und laute Geräusche. Gedenken an Tote findet oft geräuschlos statt. Das ist - wenn man sich Totenkulte anderswo ansieht, nicht überall so:

Ein bekanntes Beispiel ist Mexiko, in dem der 1. November, der Día de los Muertos (Tag der Toten) mit ausgelassenen Tänzen und Mariachi-Musik auf den Gräbern begangen wird. Ich bin ja ein kommunikativer Mensch und mir ist das Konzept sympathisch, dem Gedenken an die Toten auch etwas Lautes, gleichermaßen eine Stimme zu geben. Ist nicht die Stimme das, was uns zu Individuen macht? Das erkannten schon die alten Römer, steckt doch im Wort Person das lateinische per sona, "durch die Stimme". Veronikas Fotos sind im Haus präsent, von ihrer Stimme gibt es noch Aufzeichnungen, die sie in ihren letzten Wochen für Sonja und mich gemacht hat. Ich finde, diese bringen sie uns näher als die Fotos.     


Sonnenaufgang (Göttingen):    06:40

Sonnenuntergang (Göttingen): 18:20


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