Tag 92: Brief an Veronika

Liebe Veronika,

du bist jetzt genau drei Monate nicht mehr bei uns. Genau in dem Moment, wenn dieser Beitrag veröffentlicht wird, heute um 10:52. Du bist im Hochsommer von uns gegangen, als die Tage schon ganz langsam wieder kürzer wurden. Jetzt verschwindet das Sonnenlicht ganz schnell, es ist jeden Morgen, wenn ich Sonja wecke, ein wenig dunkler. Es ist binnen weniger Tage Herbst geworden, die Vögel sind verstummt, nur die Krähen sind weit zu hören. Die Blätter fallen, es ist neblig, das morgendliche Zwielicht hält sich weit in den Vormittag hinein. Du liebtest diese Stimmung sehr. Im Herbst zeigt uns die Natur die Vergänglichkeit allen Seins: Die einst saftig grünen Blätter verfärben sich erst langsam, dann immer schneller, trocknen aus, fallen runter und enden als Kompost oder in irgendwelchen Laubsaugern. Auch an dem starken Ahorn über deiner Grabstelle wird das Laub jetzt müde und lässt sich zu Boden sinken. Nichts und niemand entkommt diesem Geschehen: In einigen Wochen recken die Bäume ihre kahlen Äste der fahlen Wintersonne entgegen, um ein wenig von dem lebenswichtigen Licht abzubekommen. Der Sommer ist nur noch eine Erinnerung.

Und nur weil im Herbst das passiert, was ich hier beschrieben habe, kommen nach einigen Monaten ganz zaghaft neue Knospen, die an einem gewissen Zeitpunkt im Frühjahr förmlich zu neuem Leben explodieren: Die Natur zeigt ihre Stärke und Schönheit in allen Farben, Düften. Es blühen wieder die Bäume, die im Sommer Schatten und Schutz vor der sengenden Sonne spenden. Wie es weitergeht, ist klar. Es gibt kein Werden ohne Vergehen und kein Leben ohne Sterben. 

Die zurückliegenden drei Monate waren die härtesten und längsten meines Lebens, sie waren der Herbst meines alten Lebens. Jetzt kommt der Winter. Es wird eine Adventszeit ohne dich, Weihnachten ohne dich, unser Kennenlerntag ohne dich, Silvester, Neujahr ohne dich, erst dein und dann mein Geburtstag ohne dich. Mein erster Geburtstag ohne dich nach 27 Jahren wird am 22. März 2024 sein. Ich habe keine Vorstellung, wie, wo und mit wem ich ihn verbringen werde. Ich weiß aber eines: Mein Geburtstag ist einen Tag nach dem Frühjahrsäquinoktium, dem Tag, ab dem die Tage wieder länger sind als die Nächte. Es wird eine Zeit sein, in der die Tage rasch länger werden. Es wird eine Zeit sein, in der die Bäume Knospen hervorbringen. Vielleicht gibt es dann schon erste warme Tage. Wir werden uns irgendwann - es muss nicht genau an jenem Tag sein - vorsichtig nach draußen wagen um mit Staunen zu sehen, wie weit die Natur mit ihrem Frühlings-Wunderwerk ist.

Wir wissen nach einem langen Winter nicht genau, wann wir wieder das Leben außerhalb unserer Winterschlafhöhlen in vollen Zügen genießen. Manchmal halten sich Schnee, Kälte und Stürme auch sehr lang ins Frühjahr hinein. Aber irgendwann kommt die Zeit, in der wir wieder am vollen Leben teilnehmen, anders als zuvor, aber wir tun es unweigerlich.

Teil dieses Kreislaufes zu sein, sich nicht dagegen zu stemmen, sondern sich tragen zu lassen vom Wandel, vom Fluss der Zeit und der Dinge, hat für mich etwas Beruhigendes und Tröstliches. 

Weißt du, als wir uns kennen lernten, war gerade Weihnachten vorüber. Kurz nach der Wintersonnenwende, die Tage wurden ganz langsam länger, die Sonne jeden Tag ein bisschen stärker.

Du hinterlässt die größte Lücke in Sonjas und meinem Leben, die wir uns jemals vorstellen konnten. Ich habe eine Wut auf das Schicksal, das uns so früh genommen wurdest, es ist ungerecht, überflüssig, wir sehen täglich aufs neue die grimmige Fratze, die uns sagt, was wir eigentlich durchmachen müssen. Irgendwann sehen wir diese Grimasse nicht mehr, irgendwann erschrecken wir nicht mehr vor ihr. Für Sonja und mich geht es trotzdem weiter. Unsere Trauer und unser Schmerz ist auch der Anfang von etwas Neuem. Und doch bleibst du bei uns.


In Liebe


Benni (mit Sonja und Isa)




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