Tag 104: Veronikas Elternhaus
Gestern habe ich mit Sonja ihren noch lebenden Opa besucht: Veronikas Vater. Mir ist wichtig, dass in einer Familie Kontakt zwischen Generationen besteht und solche Beziehungen gepflegt werden, weil beide Generationen vom Austausch untereinander profitieren können. Für mich hieß das ein Besuch in Veronikas Elternhaus in Brannenburg am Inn, ca. eine Stunde Bahnfahrt von München entfernt. Emotional hat mich das gestern ziemlich mitgenommen - oder soll ich sagen: zurückgeworfen? Ich habe mich mit einer ordentlichen Portion Schwermut an den ersten Besuch dort erinnert: Es war im Mai 1997, wir waren zwei frischverliebte Turteltäubchen, zwischen die zu keiner Zeit ein Blatt passte. Es war gleichzeitig mein "Antrittsbesuch" bei Veronikas Eltern gewesen. Wir waren noch Studenten, hatten keine ernsten finanziellen Probleme, keine Verantwortung für Haus, Hund und Kind. Aber wir hatten uns, und das genügte uns vollauf.
Wir hatten begonnen, erste Pläne zu schmieden: Unsere erste gemeinsame Reise sollte im September 1997 nach Neapel gehen. Stolz hatte ich es meiner Schwiegermutter erzählt, die mir - statt der erhofften geteilten Vorfreude - mit einem "Um Gottes Willen" antwortete. Ich ging davon aus, dass es am Reiseziel lag. Wir ließen uns nicht beirren. Veronika und ich galten im Freundeskreis als das Traumpaar schlechthin. Dass sie vier Jahre älter war als ich rief in einzelnen Teilen unserer Familie gewisse Zweifel hinsichtlich der Tragfähigkeit unserer Liebe hervor. Meine damals 87jährige Großmutter - Generationen denken in solchen Fragen nun mal unterschiedlich - prognostizierte mir: "Irgendwann kommt mal einer mit Cabrio und nimmt sie dir weg." Es kam aber keiner mit Cabrio, auch mein "Vorgänger" bei Veronika mit seinem Motorrad kam einfach nicht (wieder). Wir waren uns sicher, gegenseitig unsere große Liebe zu sein. Ich hatte das Gefühl, im Frühling meines Lebens angekommen zu sein, die Schule lag seit zwei Jahren hinter mir und das schönste Liebesglück ganz offensichtlich vor mir.
Gestern war ein Herbsttag und seit dem Erstbesuch in Veronikas Elternhaus sind 26 Jahre und 6 Monate vergangen: Im Haus war es still. Vieles sah noch so aus wie damals und es versetzte mir mehrere Stiche ins Herz, egal wohin ich auch schaute. Da war das Gefühl wieder: Nie mehr! Nie mehr würden wir es uns zum Fernsehen gemütlich machen, nie mehr würden wir in der Umgebung spazieren gehen. Wir hatten in unserer Münchener Zeit oft Wochenenden bei Veronikas Eltern verbracht und uns von der Küche meiner Schwiegermutter verwöhnen lassen.
Jetzt war alles anders und doch kaum verändert. Die meisten Möbel standen noch an ihrem Platz. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie mir Veronika beim ersten Besuch alles gezeigt hatte. Damals gab es sogar noch ihr Jugendzimmer. Ich fragte mich gestern wieder, warum unser Leben nicht so sein durfte, wie wir es gerne gewollt hätten. Ich hatte auch wieder dieses Gefühl, dass mir etwas Bleischweres den Brustkorb zusammendrückt, so wie in den Tagen nach Veronikas Tod.
Die letzte Woche mit Sonja und Isa auf unserer Schweiz-Italien-Reise war teilweise anstrengend, aber auch voller herrlicher Eindrücke. Ich habe unsere Auszeit als klaren Wink des Schicksals verstanden, dass das Leben gelebt werden will. Jede schöne Reise hat leider ein Ende: Gestern kam mit diesem Besuch der "Arbeitsalltag" zurück, also das, was man als Trauerarbeit bezeichnet. Da war er wieder, der Scherbenhaufen, in den unser gemeinsames Leben zersprungen war, nachdem es im Herbst 2017 immer mehr Risse bekommen hatte. Niemand war so freundlich gewesen, die Scherben in unserer Abwesenheit zusammenzukehren. Tage wie gestern haben mir gezeigt, dass der Scherbenhaufen manchmal doch größer ist, als ich dachte.
Ich werde weitermachen, jedes einzelne Bruchstück betrachten und mir Gedanken machen, welchen Platz es in meinem zweiten Leben einnehmen kann. Die Reise mit Sonja, Kontakte zu neuen Menschen, die in unser Leben gekommen sind, wiederaufgenommene Kontakte aus früherer Zeit: All das sind schon erste neue Mosaiksteine für Sonjas und mein "Leben 2.0". Noch liegen diese Steine ungeordnet rum und ich überlege mir, wie sie zusammenpassen könnten. Ich weiß noch nicht, was ich alles in dieses Mosaik einfüge und was nicht. Und wann es fertig ist, kann ich auch nicht sagen. Ich glaube, es wird nie vollendet - vielleicht hat das auch was Gutes.
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