Tag 86: Nun ist es aber mal gut!

Vor zwei Tagen hatte ich ein intensives Gespräch mit einer "Leidensgenossin" - sie ist schon einige Jahre länger verwitwet als ich und in der Folge ebenfalls alleinerziehend. Keineswegs war diese Unterhaltung ein Rumjammern, ein gegenseitiges Bemitleiden, es war vielmehr ein nüchterner Erfahrungsaustausch und durchaus auch unterhaltsam und beflügelnd. Sie erwähnte diesen Satz "Nun ist es aber mal gut!" in unserem Gespräch. In unserer Situation kriegen wir ihn immer wieder mal zu hören, wenn nach dem Tod des Lebenspartners einige Zeit ins Land gegangen ist. "Gar nichts ist gut!", fügte sie hinzu, "das hätten alle wohl gerne. Weil sie damit nicht umgehen können." 
Wenn Trauernde auf Partys gehen, sich auf Stadtfesten unters Volk mischen, ausgelassen tanzen, sich amüsieren, dann scheint vieles für Außenstehende wieder "normal". Er oder sie wird dann für "darüber hinweg" erklärt. Erst recht, wenn neue Lebenspartner ins Spiel kommen oder sich der Beziehungsstatus wieder auf verheiratet ändert. Uff, dann ist es geschafft, dann belastet der Ex-Witwer/die Ex-Witwe die Mitmenschen nicht mehr mit unschönen Gedanken. 
Rückfahrt aus dem Sommerurlaub 2019 - irgendwo in Österreich

In der Trauerforschung existieren Phasenmodelle: Häufig wird auf das Vier-Phasen-Modell der Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast Bezug genommen. Wer etwas darüber nachlesen möchte, kann es hier tun.
Das ist nicht das einzige derartige Modell, aber das bekannteste. Gemeinsam ist allen, dass sie von einem eher chronologischen linearen Verlauf des Trauerprozesses ausgehen. Neuere Forschung weiß, dass es nicht so einfach ist: Die für die Phasen als charakteristisch beschriebenen Verhaltensmuster treten durchaus auch mal gleichzeitig oder in umgekehrter Reihenfolge auf. Ich habe an anderer Stelle schon erwähnt, dass auch der Aufbau eines neuen Lebens als Teil der Trauerarbeit zu begreifen ist und im Prinzip gleichzeitig mit der "Verarbeitung" des Verlustes abläuft. 
Viele Trauerbegleitungen orientieren sich heute an den Arbeiten des Theologen und Psychologen Roland Kachler. Er geht - vereinfacht gesagt - davon aus, dass die Trauer ein Teil der betroffenen Person wird. Insofern hört sie niemals ganz auf, sie wandelt sich jedoch im Lauf der Zeit. Sie ist vielmehr eine Form der andauernden Liebe zu der vermissten Person. Ziel der Trauerarbeit ist es, eine neue innere Beziehung zur verstorbenen Person zu entwickeln, nachdem der Verlust der Person in der Außenwelt akzeptiert wurde. Der tröstliche Gedanke für mich ist dabei, dass der Mensch durch die Liebe zu ihm nie verloren geht. Ich finde es gar nicht so unähnlich mit dem mexikanischen Totenkult: Solange jemand sich an die verstorbene Person erinnert, lebt sie weiter. 
Insofern: Es wird nicht mal so einfach gut, es wird anders. Und dieses anders kann so viele Facetten haben. In jedem Fall - so denke ich - macht uns eine schwere Krise zu anderen Menschen. Ich hatte heute tagsüber einen tiefen Durchhänger - ich hatte keinen Bock mehr auf diese neue Normalität, wollte einfach nur mein altes Leben zurück. "Aber das wird so nicht mehr wiederkommen. Es wird etwas Neues kommen. Es kann nur besser werden. Und es wird auch besser!" Das hat mir heute jemand geschrieben. Vielen lieben Dank für diese Worte. Sie waren eine wahre Wohltat. 



Kommentare

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes