Tag 8: Zwischen Routine und Schmerzen

Heute bist du, meine liebe Veronika, seit acht Tagen nicht mehr bei uns. Unser schönes Haus hast du heute vor 20 Tagen schon verlassen., so lange bin ich quasi schon alleinerziehend. So langsam aber sicher beginne ich zu verstehen, dass du nie wieder nach zurückkehrst. Ich denke in fast jeder Situation, wie es wohl mit dir wäre, was du sagen würdest, welchen Witz wir machen würden. Besonders ungewöhnlich ist das Heimkommen: Ich kann nicht einfach klingeln, denn du wirst nie wieder die Haustür öffnen. Praktisch heißt das, dass Schlüsselvergessen jetzt ein absolutes No Go ist, denn es würde ein teurer Spaß. Manchmal wünsche ich mir einfach, dieser Film wäre vorbei, ich komme vom Einkaufen oder dem Hundespaziergaang zurück, und du öffnest einfach die Tür, wir erzählen, was passiert ist und gehen dann unseren Aufgaben nach. Aber das kommt nie wieder. Und das ist im Moment unvorstellbar.

Heute hat dein Vater noch Fotos für Sonja geschickt, eines, auf dem du Mitte 30 bist und eines, wo du mit deinen Eltern im Wanderurlaub bist, irgendwann im Teeniealter. Sonja ist optisch definitiv deine Tochter. Für mich ist es geradezu unerträglich, diese Fotos von vor ca. zehn Jahren anzusehen: Damals hatten wir zwar finanzielle Sorgen, aber du warst gesund, stark, unbeirrbar optimistisch und eine wunderschöne Frau mit einem mitreissenden Lächeln. Es wäre mir damals, als Sonja gerade geboren war, nie in den Sinn gekommen, dass du dich schwerfällig atmend über einen Klinikflur schleppst und wir deine Trauerfeier planen.

Momentan geben mir meine ganzen Vater- und Witwerpflichten Halt, vor allem, weil ich abgelenkt bin und für Gedanken keine Zeit ist. Ich habe viel "angeleiert", wie man so sagt: Heute habe ich mich bei der Rentenversicherung beraten lassen: Es gibt so etwas wie eine Erziehungsrente, die auch verwitwete Elternteile erhalten können, das könnten für uns wohl ein paar Hunderter im Monat sein. Irgendetwas Positives muss es in dieser elenden Situation ja geben, wenn Sonja schon die Mutter verliert! Morgen habe ich ein Gespräch mit dem Kinderarzt, da ich so schnell wie möglich eine Vater-Kind-Kur beantragen möchte. Am Donnerstag kommt Elke und verarbeitet mit mir die reifen Johannisbeeren aus unserem Garten. Ich hoffe, du siehst uns dabei zu. 

Du warst ein echtes Phänomen: Noch am Vorabend deines Todes hast du mir durch Lena übermitteln lassen, was ich mit den Johannisbeeren zu tun habe. Du hast eben auch dein Ende gewissenhaft vorbereitet, da musste alles geregelt sein. Du hast in deinen letzten Lebenswochen und -tagen Vorkehrungen getroffen, damit Sonja und ich nicht unerwartet im Alltagschaos versinken. Du warst wirklich ein ungewöhnlicher und einzigartiger Mensch und ich bin stolz und - bei allem Schmerz - glücklich, dass ich die meiste Zeit meines bisherigen Lebens an deiner Seite verbringen durfte. Und natürlich bewundere ich dich, wie du erhobenen Hauptes aus dieser Welt weggegangen bist. Auch, wenn ich das lieber erst in 30 Jahren erlebt hätte als heute.

Ich denke an dich - jede Sekunde.


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