Tag 204: Falsch abgebogen

Veronikas viel zu früher tragischer Tod ist - wenn man der Statistik glaubt - eine Verkettung unglücklicher, bitterer Umstände. Im Alter von 51 ist das Mammakarzinom die häufigste Todesursache bei Frauen, wobei das Risiko, daran zu versterben in Veronikas Alter bei etwa einem halben Prozent liegt. (Quelle: Statista). Ja, ich wage heute mal einen laienhaften Ausflug in die Medizinstatistik, auch um zu zeigen, dass das Schicksal mit uns nicht gerade gnädig war. Wenn eine Patientin (oder ein Patient, ja, auch das gibt es) in relativ jungen Jahren die Diagnose Brustkrebs erhält, ist es erstmal ein Schock, das Vertrauen in das fehlerfreie Funktionieren des eigenen Körpers geht schlagartig verloren. Auf der anderen Seite: Man/Frau ist nicht allein: Langzeitüberlebende Patientinnen sind in den Medien, durch Bücher und Vorträge bekannt, als Vertreterin führe ich hier Annette Rexrodt von Fircks ins Feld, die seit 1998 mit dieser Krankheit lebt und allen Prognosen trotzt. Solche Bespiele machen Mut und wir haben uns ihre Geschichte gerne vor Augen geführt, gewissermaßen als dringend benötigte moralische Stütze. 

Allein: Mammakarzinom - so der medizinische Fachausdruck - ist eben nicht gleich Mammakarzinom. Doch der Reihe nach: Statistisch gesehen erkrankt jede achte Frau irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs (Quelle: Onko-Internetportal). Das Risiko steigt - wie bei allen Krebsarten - mit dem Alter. Somit war Veronika hier erstmalig bei den falschen zwölfeinhalb Prozent. Zieht man ihr Ersterkrankungsalter (45) in Betracht, war ihr Pech nochmal größer - zu sehr ins Detail möchte ich hier nicht gehen. 

Jetzt wird es etwas medizinischer: Veronikas Tumor gehörte dem triple-negativen Typ an. Bei dieser Tumorart fehlen die Rezeptoren für weibliche Hormone wie Östrogene und Progesteron und der sogenannte Her-2-Rezeptor. Zur Vertiefung verweise ich gerne wieder auf die Deutsche Krebsgesellschaft und auf Mammamia-Online. Dies bedeutet, dass der Tumor aggressiver ist und nur wenige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen - eine kräftezehrende Chemotherapie mit allen bekannten Nebenwirkungen ist unausweichlich. Ungefähr 15 Prozent aller Brustkrebsfälle gehören zu dieser Gruppe. Das (altersbereinigte) Risiko, an dieser aggressiven Krebsart zu erkranken liegt somit bei unter zwei Prozent, eine von 50 Frauen erwischt es somit besonders hart. 

Ab jetzt sind die Daten nicht mehr so genau greifbar: Es erscheint, als gehe es beim triple-negativen Brustkrebs sehr schnell um alles oder nichts: Nach der ersten Chemotherapie, welche länger als ein halbes Jahr dauert, sollte der Tumor idealerweise komplett (!) verschwunden sein, damit das Rezidivrisiko niedrig bleibt, so zeigt eine Metastudie aus dem Jahr 2020. Veronika gehörte hier zu den zwei Dritteln, bei denen es eben leider nicht zu einer sogenannten pathologischen Komplettremission kam. Vulgo: Nach der ersten Chemotherapie waren noch Tumorzellen vorhanden. Damit lag ihre Chance, fünf Jahre nach dem Ende der Chemotherapie (Juni 2018) noch zu leben. ungefähr bei 50 zu 50. Etwas mehr als fünf Jahre nach dem Ende der ersten Chemotherapie, also im Juli 2023, befand sich Veronika letztmalig auf der falschen Seite der Statistik und erlag ihrer Erkrankung. Statistisch gesehen ein sehr unwahrscheinliches Ereignis, für meine Tochter Sonja und mich jedoch bittere Wahrheit.


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