Tag 184: Ein halbes Jahr

Heute ist seit Veronikas Tod genau ein halbes Jahr vergangen - eigentlich nicht viel Zeit und doch hat sich so vieles verändert. Ich kann es manchmal kaum glauben, dass es erst sechs Monate her ist, dass Veronika von Ihrem unerträglichen Leiden erlöst wurde. Es macht mir gerade das Leben leichter und mir tut der Gedanken gut, dass heute die erste Hälfte des "Trauerjahres" im klassischen Sinne zu Ende ist. Auch meine "Haarpracht" normalisiert sich ein halbes Jahr "danach" erstaunlich schnell.

Mir wird immer wieder bewusst, dass - mit dieser schweren Form von Krebs - Veronikas verfrühter Tod unabwendbar war. Ich hatte in den letzten Jahren oft das Gefühl, mich in hohem Tempo auf eine hohe, undurchdringbare Wand zuzubewegen, ohne die Möglichkeit zu bremsen oder auszuweichen. Ich wusste nicht, was ihr Tod mit mir machen würde. Heute vor einem halben Jahr um diese Uhrzeit wusste ich: Sie hat es hinter sich, sie braucht nicht mehr zu leiden. Sie konnte diesen Körper, der für sie unbewohnbar geworden war, der ihr nur noch Schmerzen bereitete, verlassen. 

Sie hatte es hinter sich. Ich hatte es vor mir: Herausforderungen als verwitweter Vater, Behördenkram, Rentenanträge, Sonjas Sorgen, Verantwortung für Firma, Haus, Kind, Hund und zu guter Letzt auch für mich, an dem alles von da an hängen würde. Ich habe am ersten Tag sofort verstanden, dass ich ich an der großen grauen Wand angekommen war, auf die ich zugerast war. Aber diese Wand war nicht aus Stein, an dem ich zerschellen sollte. Es war ein dicker, scheinbar undurchdringlicher Nebel, in dem man nicht mal die eigene Hand vor den Augen sehen konnte. Aber in diesem Nebel konnte man gehen. Und so bin ich gegangen, erst ziellos, ruhelos, bis ich langsam Konturen um mich herum erkennen konnte. Und bald erkannte ich eine Richtung, in der sich der Nebel eine wenig lichtete. Diese Richtung konnte ich einschlagen. Auch wenn die Schritte anfangs Kraft kosteten, so lichtete sich der Nebel doch mit jedem Schritt ein wenig mehr. Heute - nach diesem zweifelsohne harten halben Jahr - kann ich sagen, dass ich deutlich wieder Konturen und Farben erkennen kann. Nicht alles ist immer leicht, es gibt schwere Tage, besonders die, an denen sich Sonja ihren Verlust vor Augen führt und entsprechend reagiert. Aber es gibt auch wieder schöne Tage - und es könnten mehr davon werden. 


Sonnenaufgang (Göttingen):    08:23

Sonnenuntergang (Göttingen): 16:32


P. S.: Sonja hatte heute ihren ersten Unterricht auf der E-Gitarre. Ich freue mich, dass sie aus eigenem Antrieb sich für dieses Instrument entschieden hat - und ich hoffe, dass ich weniger Diskussionen über das tägliche Üben führen muss. 



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