Tag 188: Anpassung

Es ist Mitte Januar. Das neue Jahr 2024 ist noch keine zwei Wochen alt. Ich persönlich mag den Januar nicht: Die süßlich-einlullende Gemütlichkeit der Weihnachtszeit ist passé, der Winter zeigt sich - so wie in diesen Tagen - von seiner unbequemen Seite: Die Tage sind (noch) kurz, die Temperaturen niedrig, die Luftfeuchtigkeit hoch, das blaue Band des erlösenden Frühlings flattert noch lange nicht am Horizont. Bitte nicht falsch verstehen: Ich mochte diese Jahreszeit noch nie.

Als Philologe werfe ich gerne einen sprachwissenschaftlichen Blick auf Dinge, und so mache ich das mal für den laufenden Monat: Er heißt noch dem zweigesichtigen römischen Gott Ianus, der für den Anfang und das Ende zugleich steht, aber auch für alle Türen und Tore. Jetzt, nach dem Ende des Jahres 2023, merke ich täglich, dass nicht nur die Jahreszeit, sondern auch die Lebensphase irgendein Zwischending zwischen Anfang und Ende ist. Insbesondere Sonja wird es in diesen Tagen bewusst, dass ihre ungewollte neue Lebenssituation eben nicht vorübergehend, sondern endgültig ist. Bei allem, was ihr Kinderherz unter dem viel zu frühen Verlust der Mutter leidet, kann ich nur hoffen, dass sie irgendwie an dieser Situation wachsen wird. 

Es ist für sie und mich wahrscheinlich der größte Rückschlag im Leben. Und doch: Etwas Anderes als weiterzugehen bleibt uns nicht übrig. In diesen Tagen merke ich besonders deutlich, wie sich unser soziales Umfeld ändert: Von einigen Freunden haben wir in der Weihnachtszeit nichts gehört oder gelesen. Ich halte es als frisch verwitweter und allein erziehender Vater nicht für meine moralische Verpflichtung, mich nach dem Wohlbefinden derer zu erkundigen, deren Leben in geregelteren Bahnen verläuft als Sonjas und meines im letzten halben Jahr.

Viele Menschen, mit denen ich zur Zeit zu tun habe, standen schon oder stehen noch an Wendepunkten im Leben, damit meine ich nicht nur Witwen bzw. Witwer, sondern auch Personen, die gerade private und berufliche Krisen meistern. Die Gespräche, die ich führen darf sind oft existentielleren Charakters. Da geht es dann beispielsweise nicht mehr darum, in welche Klasse die Kinder gehen, sondern darum, ob und wie sie sich grundsätzlich im Schulalltag schlagen. Da geht es nicht mehr um den nächsten Schritt auf der Karriereleiter, sondern um das grundsätzliche Bewältigen der Anforderungen der zeitgenösssichen Arbeitswelt im Kontext von Mobbing und chronischer Überlastung. Viele Menschen erzählen bei näherer Betrachtung ihre Geschichten von einem Dasein zwischen etwas Altem, was noch nicht zu Ende ist und etwas Neuem, was noch nicht wirklich angefangen hat und auch nicht klar definiert ist. 

Das Bewusstsein, dass auch Sonja und ich in einer Übergangsphase sind, in der alles im Fluss ist, gibt mir immer wieder aufs Neue die Zuversicht, dass das graue Zwielicht des niedersächsischen Januars kein Dauerzustand ist, sondern eben Teil einer notwendig gewordenen Veränderung.


Sonnenaufgang (Göttingen):    08:20

Sonnenuntergang (Göttingen): 16:38



Kommentare

  1. Hallo Benjamin, du kannst alle Gefühle und Situationen so gut in Worte fassen! Habe schon einiges gelesen. Wünsche dir und deiner Tochter weiterhin viel Kraft! Bin selber Witwe (ich mag das Wort überhaupt nicht) mit 3 Kindern seit 5 1/2 Jahren und in der Facebook-Jung verwitwet-Gruppe. Schreib weiter.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Am meisten gelesen

Tag null: Drei Anrufe

Tag 6: Brief an Veronika

Tag 1: Viele Anrufe und die Tränen meines Kindes