Tag 128: 210mm x 297mm

Wenn man sich so durch den Alltag arbeitet und lebt, merkt man, wie rechteckig viele entscheidende Dinge im Leben sind. In unserer bürokratisierten Welt haben viele wichtige Dinge das Format DIN A4: Bescheide, Belege, Befunde, Beglaubigungen, alles papierene Dinge, die heute beinahe so überlebenswichtig scheinen wie Essen, Trinken, Luft und Liebe. 

Irgendwann landen diese Papiere dann in Aktenordnern und diese Aktenordner landen in Regalen. Wer das Glück hat, über einen großen Keller zu verfügen, kann diese Ordner dort aufbewahren. Denn einfach wegwerfen ist auch keine gute Idee und zum Teil vom Gesetz auch nicht so gewollt.  

Seit einiger Zeit steht im Kellerraum - zwischen Kontoauszügen, Briefen von Versicherungen und den Unterlagen, die bei Freiberuflern wie mir noch dazu kommen auch der Ordner mit der Aufschrift FCK CNCR. In der Krebscommunity ist es bekannt als Kürzel für "Fuck Cancer". Veronika war ein sehr ordentlicher Mensch und hat alle Arztbriefe und Berichte dort abgelegt. Ich habe den Ordner seit Ende Juli nicht mehr in die Hand genommen, aber heute habe ich vorsichtig nachgesehen, ob er noch da ist. Heute vor sechs Jahren, am 15. November 2017, wurde es notwendig, diesen Ordner anzulegen, denn an jenem Datum kam die Diagnose Brustkrebs in unser Leben. Und damit wurde dieses Leben - ich habe es an anderer Stelle erwähnt - ein Sprung von Befristung zu Befristung. Heuer fällt der 15. November auch wieder auf einen Mittwoch, das Wochentag-Datum-Karussell hat also einmal die Runde gemacht. 

Sonja war damals im zweiten Kindergartenjahr, heute steht sie an der Schwelle zur Pubertät. Die Mietwohnung im Ostviertel wurde gegen ein Reihenhaus in Geismar eingetauscht. Meine berufliche Situation ist mehr oder weniger gleich geblieben. Ich versuche immer noch, einigermaßen schön Geige zu spielen. Im Haushalt sind wir ebenfalls zu dritt, ein Bewohner hat allerdings schwarzes Fell und vier Beine statt zwei. 

Wenn man eine Arztpraxis oder einen Besprechungsraum mit so einer niederschmetterndnen Diagnose verlässt, erwartet man, dass die Welt stillsteht. Diesen Gefallen tut sie einem aber nicht. Sie dreht sich weiter. Das hat sie die ganzen sechs Jahre getan. Und so sitze ich jetzt an dem gleichen Computermonitor wie damals und verfasse diesen Beitrag.  

  

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