Tag 174: Rauswurf

Liebes (?) Jahr 2023,

du kannst jetzt gehen. Du warst der Super-GAU für Sonja und mich. Ich habe meine Frau verloren, und, was viel schlimmer ist: Sonja hat als Kind ihre Mama verloren. Dass der Tod zum Leben gehört, ist klar und wird gerne verdrängt. Aber toll finden müssen wir das jetzt nicht, oder? Du kamst unschuldig daher, nachdem dein Vorgängerjahr geprägt war von der bis in sein Frühjahr andauernden Covid-19-Pandemie, dem Angriffskrieg auf die Ukraine, Wetterkapriolen und einer sich über alles legenden Unsicherheit. Ab dem 4.1 hat du uns gezeigt, dass du es nicht gut mit uns meinst: Veronikas Kontroll-CT ergab vermehrte Tumoraktivität. Dann gab es zu Veronikas Krankheit eigentlich nur noch schlechte, nein, immer schlechtere Nachrichten. Ich bin ja nicht besonders astrologieaffin, aber ich habe gelesen, du warst ein Mars-Jahr. Mars steht ja trivial immer für Krieg, davon gibt es zur Zeit ja mehr als genug in der Welt - obwohl: Gab es mal ein Jahr ohne?

Versuchen wir, etwas unter die Haube dieses roten Planeten zu sehen: Da ist Kampf, Neuanfang, Selbstwirksamkeit. Das sind jetzt durchaus zutreffende Begriffe, wenn ich auf Sonjas und mein 2023 zurückblicke. Veronika hat natürlich erbittert gekämpft, aber es war mehr und mehr ein aussichtsloses Ringen. 

Ich wurde dieses Jahr zum Kämpfer, das Leben hat mir so viel abverlangt wie noch nie zuvor: Ich habe die volle Verantwortung für meine Tochter. Ich bin allein für Hund, Haus (ja, und auch Garten) zuständig. Ich muss, auch wenn der finanzielle Druck nicht besonders hoch ist, dafür sorgen, dass meine Selbständigkeit Einkommen generiert. Vermehrt habe ich das Gefühl, bloß nicht krank werden zu dürfen. Ich merke erst jetzt, wie anspruchsvoll es ist, immer "zuständig" zu sein. Und doch, alle diese Umstände haben dazu geführt, dass ich denke: "Jetzt erst recht!"

Deine letzten Tage haben wir nicht zu Hause verbracht, wir wollten einfach nur weg. Eigentlich wollten wir bis zum Neujahrsmorgen in Hahnenklee in der Jugendherberge verbringen, "Silvester mit Hund" war im Angebot. Hunde waren da, sonst hatten wir weniger Glück: Das Zimmer war eher ein Einbauschrank, die Unterkunft deutlich in die Jahre gekommen und die anderen Gäste nur "komplette" Familien, die sich als nicht besonders kontaktfreudig erwiesen. Wir fühlten uns ein bisschen wie auf der falschen Party und sind am Silvestermorgen nach Hause gefahren.

So beenden wir dich, du Marsjahr 2023, ganz still und zu dritt in unserem Göttinger Haus. Morgen bist du Geschichte.









 

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